Totgesagt
stand die Adresse, an der er die Ausweise abliefern sollte: Schließfach Nr. 14, Store’n’ Pay, Paddington. Ich hatte die Telefonnummer in den Gelben Seiten herausgesucht und vom Starbucks aus dort angerufen. Es war ein Laden, der Aufbewahrungsmöglichkeiten anbot; tausend Schließfächer. Man bezahlte pro Tag oder pro Monat und bekam eine Magnetstreifenkarte, die einem jederzeit Zutritt zum Gebäude verschaffte. Die Fächer waren nicht riesig, aber groß genug für Sporttaschen und Aktentaschen, Mäntel und Anzüge. Ganz sicher waren sie groß genug für das, was Michael abholen wollte.
Als wir Paddington erreichten, drängten sich die Berufspendler aus dem Zug. Eine Flutwelle von Menschen, die sich zum Ausgang wälzte. Michael schloss sich ihnen an. Ich wartete bis zur letzten Minute, dann folgte ich ihm.
Auf den Rolltreppen standen die Leute dicht hintereinander. Ich entdeckte ihn auf halbem Weg nach oben, das Gesicht immer noch in sein Buch vergraben. Sobald er oben angekommen war, nahm ich zwei Stufen auf einmal, bis auch ich die obere Plattform erreicht hatte. Er ging jetzt in Richtung der Fernzüge, schlug dann aber einen anderen Weg ein und verließ das Gebäude.
Draußen wandte er sich nach Südosten. Wir bewegten uns jetzt Richtung Hyde Park. Wie Kapillaren zweigten auf beiden Seiten Wohnstraßen ab. Ich achtete darauf, Abstand zu ihm zu halten, und folgte ihm auf der anderen Straßenseite, wo es dunkler und sicherer war.
Ich konnte den Park bereits erkennen, als er nach rechts in eine kleine Straße mit parkenden Autos auf beiden Seiten und einer Ladenfassade am Ende einbog. Auf einem Schild über der Tür stand Store’n’ Pay. Als er die Stufen zum Eingang hinaufstieg, blieb ich stehen. Er zog eine Magnetstreifenkarte
durch ein elektronisches Schloss und stieß die Tür auf.
Store’n’ Pay hatte ein großes Schaufenster zur Straße, über dem in blauer Neonschrift die Worte SICHERE SCHLIESSFÄCHER summten. Es gab einen unbesetzten Tresen mit einer Reihe roter Schließfächer dahinter. Ein anderer Mann befand sich schon im Laden und hatte sein Fach geöffnet. Michael ging an ihm vorbei zu Fach vierzehn. Es befand sich links vom Fenster. Er stellte seine Tasche ab, tippte eine Ziffernfolge ein und öffnete die Tür. Im Fach lag ein kleiner brauner Umschlag.
Während Michael den Inhalt des Umschlags untersuchte, wurde der andere Mann fertig und kam auf die Eingangstür zu. Schnell überquerte ich die Straße, stieg die Stufen hinauf und hielt die Tür fest, ehe sie hinter ihm ins Schloss fallen konnte. Der Mann warf mir einen kurzen Blick zu. Als er bemerkte, wie mein Gesicht zugerichtet war, musterte er mich eingehender – dann verschwand er auf der Straße und schaute sich noch einmal kurz um. Fünf Autos entfernt ging er an meinem neuen Mietwagen vorbei. Ich hatte ihn dort abgestellt, ehe ich die U-Bahn nach Redbridge genommen hatte.
Ich brauchte den Wagen ganz in der Nähe – für unsere Flucht.
Ich betrat den Laden und zog die Tür hinter mir zu. Michael stand mit dem Rücken zu mir, das Schließfach geöffnet, und studierte immer noch den Inhalt des Umschlags. Wenige Sekunden später schob er die Tür zu, hob seine Laptop-Tasche auf und drehte sich um.
Sein Blick blieb an mir haften.
»David«, sagte er. Er wirkte schockiert. Sein Unterkiefer klappte ein Stück herunter, und die Farbe verschwand aus seinem Gesicht. Doch er gewann die Selbstkontrolle schnell
zurück. »Ich muss zugeben, dass ich nicht gedacht hätte, dass wir uns noch einmal treffen.«
»Nun ja, selbst die Kirche irrt sich dann und wann.«
»Ja«, erwiderte er lächelnd. »Das tun wir wohl.«
»Wo ist Alex?«
Er gab nur durch ein angedeutetes Kopfnicken zu erkennen, dass er sich an den Namen erinnerte.
»Soll ich lauter sprechen?«
»Nein, ich habe Sie verstanden. Warum wollen Sie das wissen?«
»Wo ist er?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich werde nicht noch einmal fragen.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er. »Warum machen wir keinen Deal? Sie verraten mir, warum Ihnen diese Sache so wichtig ist, und ich verrate Ihnen, wo Alex ist.«
Diesmal antwortete ich nicht. Er versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
Versuchte, mich wieder in eine Falle zu locken.
»Oh, keine Sorge, ich habe nicht vor, unser Gespräch in eine Beichte zu verwandeln.« Wieder hielt er inne und lächelte mich an. »Unsere katholischen Freunde suchen die Vergebung in einem Wimpernschlag. Ein paar
Weitere Kostenlose Bücher