Totgesagt
war Clay, der sich durchs Lokal auf sie zubewegte. Er begrüßte seine Stiefschwester mit einem Nicken, setzte sich neben sie und schob Hunter quer über den Tisch ein Blatt Papier zu.
“Was ist das?” Hunter war perplex, dass Clay sich an ihn wandte, statt an Madeline.
“Das hat mir gestern Abend irgendwer in den Postkasten gesteckt.”
“Irgendwer?”
“Lesen Sie’s erst mal.”
“‘Stopp sie, sonst mach ich’s’“, sagte Hunter und blickte auf.
“Wenn Sie mich fragen, ist damit Madeline gemeint.” Clay ließ sich rücklings gegen die Lehne sacken, hünenhaft und kraftvoll und argwöhnisch wie immer.
Madeline fragte sich, ob das, was Hunter glaubte, wohl doch stimmte. Wurde Irene von Clay gedeckt? Hatte er die ganzen Jahre gelogen? Sein Mitgefühl, seine Bruderliebe nur geheuchelt? Wohl wissend, dass er ihren Vater eigenhändig begraben hatte?
Fragen über Fragen – doch dass sich der Brief vermutlich auf sie bezog, das leuchtete ihr ein. Sie nahm Hunter den Zettel ab.
“Und Sie haben keine Ahnung, von wem das Ding hier stammt?”, fragte Hunter sein Gegenüber.
“Sonst wäre ich nicht hier”, gab der vielsagend zurück. “Die Sache hätte sich dann nämlich von selbst erledigt. Ich hätte schon dafür gesorgt, dass der Schreiber ihr kein Haar krümmen kann.”
“Warum kommen Sie damit zu mir?” Beide Ellbogen auf den Tisch gestützt, musterte Hunter ihn forschend.
“Ich habe ja nun Familie.” Clays Blick fiel auf Madeline, und seine Miene wurde merklich weicher. Madeline war tief gerührt.
Mein Gott, was habe ich ihn gern, meinen großen Bruder! Hoffentlich hat Hunter unrecht!
“Also müssen Sie jetzt auf meine Schwester aufpassen.”
“Und die Polizei? Haben Sie da schon vorgesprochen?”
Er guckte Hunter fassungslos an. “Polizei? Was soll denn ausgerechnet ich bei denen?” Er stand auf, bückte sich und gab Madeline einen Kuss auf die Schläfe, aber sie wich zurück.
Er war überrascht und gekränkt. Sein Blick – die Augen unglaublich blau, viel älter als seine Jahre – begegnete kurz dem ihren. Sie wich ihm aus. Sie wusste nicht mehr, wem sie noch trauen durfte.
Madeline fand keinen Schlaf – und das, obwohl Hunter im Zimmer direkt nebenan schlief. Sämtliche Glieder waren wie Blei, das Herz war ihr schwer. Nur in ihrem Kopf, da tobte ein Chaos sondergleichen. Anschuldigungen, die sich als haltlos erwiesen hatten. Windelweiche Entschuldigungen für Irene, Clay, Grace, sogar für ihren Vater. Bruchstückhafte Erinnerungen, die mal die eine, mal die andere Meinung stützten. Bildfetzen von Orten auf der Farm, wo ihr Vater begraben sein könnte. Die würgende Angst, Hunters bisherige Ermittlungsergebnisse könnten sich als richtig erweisen. Kurze Hoffnungsschimmer, dass er vielleicht doch danebenlag …
Sie kam einfach nicht zur Ruhe, und je mehr sie es versuchte, desto rastloser wurde sie. Selbst Sophie hatte längst aufgegeben, neben ihr schlafen zu können.
Inzwischen total verspannt, spürte sie, wie sie Kopfweh bekam. Sie brauchte ein Aspirin, doch als sie aufstehen wollte, um sich eine Tablette zu holen, blieb sie erst einmal regungslos sitzen. Ihr Blick fiel auf ein Foto, das auf ihrem Schminktisch stand: Sie und Molly und Grace, vor vielen, vielen Jahren, als sie alle drei noch Mädchen waren.
“Ach, Grace”, murmelte sie. Hätte sie doch einfach mit ihrer Schwester reden können! Vielleicht hätte man dann in Ruhe und Frieden weiterleben können … Allein, nun war es dafür zu spät. Durch das ständige Verdrängen waren die Zweifel nur gewachsen, und jetzt fing sie sogar schon an, auch ihren Vater infrage zu stellen. Irgendwoher musste das Köfferchen doch kommen! War es denn wirklich denkbar, dass irgendein Herumtreiber das Ding in den Kofferraum gepackt und den Wagen dann in der Kiesgrube versenkt hatte? Oder dass Mike dahintersteckte? Obwohl der nie jemandem etwas getan hatte? Der Einbruch letzte Nacht ging ja auch nicht auf sein Konto.
Mit einem frustrierten Ächzen ließ sie sich wieder hintenüberfallen. Selbst wenn Grace den tatsächlichen Ablauf kannte – aus ihr wäre nichts herauszuholen. Sie stand eisern zu Clay. Irene und Molly desgleichen. Es war auch nicht anders zu erwarten; Blut war eben dicker als Wasser. Echte Geschwister hielten nun mal zusammen.
Den Kopf unters Kopfkissen gesteckt, kämpfte sie mit zugekniffenen Augen gegen die Rührung an, die ihr brennend in der Kehle aufstieg. So schlimm es auch war, sich den Zweifeln und
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