Totgesagt
klaren Gedanken fassen.
“Ich komme vom Sheriff”, tönte jetzt eine zweite Stimme. “Hallo? Ist da jemand?”
Ja, ich!
Verzweifelt bemühte sie sich, diese beiden Worte zu schreien, doch es kam ihr kein Ton über die Lippen. Undeutlich nahm sie wahr, wie jemand herumging, Türen öffnete, durch den Flur polterte. Ja, sie konnte sich sogar vorstellen, dass da der Strahl einer Taschenlampe herumwanderte.
“Mr. Harper? Sind Sie da?”
Der Rufer, so hörte sie jetzt, kam in ihr Zimmer. Madeline nahm sich vor, um sich zu treten, mit dem Kopf gegen die Schranktür zu stoßen, sich zu winden, zu zappeln – alles, um sich bei dem Unbekannten jenseits der Tür bemerkbar zu machen. Doch sie war völlig gelähmt; ihre Muskeln versagten den vom Gehirn kommenden Befehlen den Dienst, mochte sie sich auch noch so anstrengen.
Nochmals versuchte sie zu sprechen, doch da merkte sie es: Der Knebel war wieder da! Vorher hatte sie ihn gar nicht gespürt, doch nun schnitt ihr der Baumwollfetzen erneut in die Lippen, sodass sie die Kiefer nicht mehr bewegen konnte. Dabei musste er wohl die ganze Zeit im Mund gesteckt haben.
Du musst stöhnen! Schreien! Egal was!
Die Schranktür glitt zur Seite. Madeline flehte zum Himmel, dass irgendetwas von ihr unter dem Deckenberg hervorlugen möge oder dass Ray etwas Verdächtiges hatte liegen lassen, damit die beiden Männer genauer nachschauten. Aber im nächsten Augenblick ging die Schiebetür schon wieder zu.
“Was gefunden?”, rief jemand von weiter weg.
“Ein unberührtes Bett und ‘nen Stapel Bettzeug.” Der Mann, der den Schrank aufgeschoben hatte, entfernte sich. Das Knarren der Bodendielen ließ das erahnen.
Nein!
Nun auch noch hyperventilierend, stellte sie fest, wie ihr der kalte Schweiß aus allen Poren brach. Im ganzen Leben hatte sie sich nicht so hilf- und wehrlos gefühlt. Sie konnte weder sprechen noch sich bewegen; sie konnte nur lauschen. Und ihre Aufregung machte alles noch schlimmer; die aufkommende Panik brachte sie schon erneut an den Rand der Bewusstlosigkeit. Je verzweifelter sie zu sprechen versuchte, desto näher rückte der Sturz in die Schwärze.
Das Letzte, was sie bewusst mitbekam, war, wie jemand sagte: “Hier muss vor Kurzem noch jemand gewesen sein. Ist aber alles in Ordnung. Kein Entführungsopfer.” Offenbar benutzte er dabei ein Funkgerät; man hörte Rauschen und Quäken.
Madeline merkte noch, wie sich eine einsame Träne aus ihrer Wimper löste. Dann wurde es Nacht um sie.
Hunter saß auf dem Beifahrersitz in Clays Kleinlaster und riss die Verpackung von der gerade gekauften Lupe.
“Wozu soll das gut sein?” Seit sie Harpers Behausung verlassen hatten, war Clay die meiste Zeit schweigsam gewesen. Entschlossen, die Fahrt zu den verstreut liegenden Blockhütten in etwa der Hälfte der veranschlagten Zeit zu schaffen, fuhr er die ganze Zeit Vollgas und überholte auf Teufel komm heraus. Doch Hunter kümmerte das nicht. Je länger er über Harper nachdachte, desto mehr fürchtete er um Madelines Leben. Selbst Bubba Turks Tod kam ihm inzwischen nicht geheuer vor. Am Herzinfarkt zu sterben, das konnte ja durchaus passieren. Wer aber hatte die Katze totgeschlagen?
Wie verbrecherisch mochte der Kerl sein? Er hatte doch nicht etwa vor, Madeline umzubringen! Es war Barker gewesen, der Katie ermordet hatte, seine erste Frau womöglich auch. Der fromme Reverend hatte zu viel zu verlieren gehabt, falls die Wahrheit ans Licht gekommen wäre.
Was aber war mit Rose Lee geschehen? Nach dem angeblichen Selbstmord im Wohncontainer ihres Vaters hatte man das Mädel nackt daliegend aufgefunden. Hunter war das von Anfang an suspekt gewesen.
Allmählich ahnte er, wieso …
“He, kriege ich mal ‘ne Antwort?”, fragte Clay gereizt, da Hunter weiterschwieg.
Hunter holte die Fotos aus der Parkatasche. “Ich möchte mir die hier mal genauer angucken.”
Clay setzte schon wieder zum Überholen an. “Wonach suchen Sie denn?”
“Weiß ich selber noch nicht. Irgendeinen Hinweis, was passiert sein könnte und wer dazugehört.”
“Ich kann Ihnen sagen, wo die meisten aufgenommen wurden.”
“Wo denn?”
“In Barkers Arbeitszimmer auf der Farm oder in seinem Pfarrbüro.”
“Und die anderen?”
“Da ist kein Hintergrund erkennbar. Alles Nahaufnahmen.”
Das stimmte allerdings. Die Verzerrung auf den Bildern ließ vermuten, dass Barker die Kamera selbst vom eigenen Körper abgehalten und dann auf den Auslöser gedrückt hatte. Bei wieder
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