Totgesagt
und sich erst einmal orientieren musste. Hier draußen, fern von den Lichtern einer Stadt, war die Nacht erheblich schwärzer als irgendwo sonst. Zunächst galt es, sich zur Haustür durchzutasten, und zwar mit schlafwandlerischer Sicherheit. Anschließend bestand vielleicht die Möglichkeit, auf eine benachbarte Hütte oder eine Straße zu stoßen, wo sie eventuell einen Autofahrer auf sich aufmerksam machen konnte. Gewiss, lange hielt man draußen in dieser Kälte nicht durch; andererseits nahm sie das Risiko lieber in Kauf, anstatt es auf das ankommen zu lassen, was sie hier im Blockhaus erwartete.
Zum Glück war ihr der Blockhausgrundriss noch gegenwärtig. Sie überlegte erst, ob sie vielleicht aufstehen sollte, ahnte jedoch, dass sie das sowieso nicht lange konnte. Die Fesseln hatten ihr derart die Blutzufuhr abgeschnürt, dass sie ihre Beine nicht mehr spürte. Die waren so taub und geschwollen – wäre das jetzt allmählich einsetzende schmerzhafte Kribbeln nicht gewesen, hätten sie sich wohl wie Fremdkörper angefühlt.
Los, mach schon!
Sie kam nicht hoch, und Krabbeln ging ebenfalls nicht. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mit Kopf, Schulter und linker Hüfte über den Boden zu robben. Weit kam sie so nicht; nach wenigen Metern stieß sie gegen die Zimmertür.
Mit einem unterdrückten Stöhnen ließ sie den Kopf auf die Dielen sinken und rang nach Luft, was ihr nach der Anstrengung sowieso schon schwerfiel. Und dann auch noch dies! Wieso hatte der Deputy bloß die Tür nicht aufgelassen?
Nur nicht heulen! Jetzt bloß nicht durchdrehen!
Sie benötigte jedes Fitzelchen Energie und Atemluft für nutzbringendere Taten. Vielleicht war ja die Polizei noch gar nicht gekommen! Womöglich war alles nur ein Traum gewesen! Schließlich hatte sie ja anfangs das Gefühl gehabt, als liege sie mit ihrem Vater zusammen in einem Grab, oder? In ihrem Kopf hallten dermaßen viele Dinge durcheinander, dass sie gar nicht entscheiden konnte, was sie eigentlich gehört hatte und was nicht. So oder so – die Tür war jedenfalls zu, und zwar ganz real. Wie man sie hätte aufbekommen können, war Madeline ein Rätsel.
Da blieb nur eins: hoch auf die Füße und dann mit dem Rücken zur Tür so lange aufrecht stehen, dass sie diese geschwollenen, unbeholfenen Dinger benutzen konnte, die früher mal ihre Finger gewesen waren.
Tief atmend, so gut das bei dem Knebel und dem Halsband überhaupt ging, stemmte sie sich an der Wand hoch. Ihre Füße schmerzten, dass ihr beinahe schwarz vor Augen wurde. Zweimal stürzte sie; doch unter Aufbietung aller Kräfte stand sie schließlich auf den Beinen.
“Geschafft!”, keuchte sie, mehr ein kehliges, krächzendes Röcheln. Worte konnte sie gar nicht aus ihrem geknebelten Mund herausbringen. Der erste Schritt zur Flucht war getan – ein guter Anfang. Sie durfte sich nicht zu viel auf einmal vornehmen, sondern musste sich kleine Siege zum Ziel setzen. Sonst wäre sie wohl nicht weit gekommen und hätte nach kürzester Zeit aufgeben müssen.
Nun war der zweite Schritt fällig. Mit geschlossenen Augen versuchte sie sich zu erinnern, wie der auszusehen hatte. Vorübergehend setzte Realitätsverlust ein; ihr war, als schwebe sie durch die Luft, als vollführe ihr Körper allerlei Kapriolen.
Denk nach! Konzentrier dich!
Ach ja – sie musste die Tür aufbekommen. Richtig, das war’s. Das war allerdings problematisch, denn sie lehnte sich mit dem Rücken genau davor und hatte keine Lust, schon wieder hinzufallen und dadurch jeglichen Fortschritt zunichte zu machen.
Du fällst schon nicht! Musst eben aufpassen! Rutsch rüber, los, zentimeterweise! Gut so!
Sie schob sich nach links, bis sie den Türpfosten am Rückgrat spürte. Die Klinke befand sich an einer Stelle, wo Madeline sie mit den gefesselten Händen packen konnte, doch sie wusste, sie durfte nicht einfach öffnen, denn dann bestand die Gefahr eines Sturzes. Linker Hand war nicht genug Platz; dort stand eine Art Sekretär, den sie in ihrer geschwächten Verfassung nicht zu verrücken vermochte. Nach rechts zurück konnte sie allerdings auch nicht, denn dann stand sie der Tür wiederum im Wege. Um den nötigen Schwung überhaupt zu erreichen, blieb offenbar nur, den Türknauf zu drehen und dann schnellstmöglich beiseitezuhüpfen, weg von der Wand. Nur konnten ihre Beine ihr Gewicht noch immer nicht tragen, und selbst bei nicht gefesselten Füßen wäre sie wohl aus dem Gleichgewicht geraten. Von dem Mittel, das Ray ihr
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