Totgesagt
geschieht. Mütter, die ihre Kinder sonst frei durch die Nachbarschaft laufen ließen, hielten sie jetzt an der kürzeren Leine. Und wie von Madeline befürchtet, fiel häufig Clays Name, wenn die Leute darauf zu sprechen kamen, dass sich womöglich ein Triebtäter in ihrer Mitte versteckte.
Für Madeline war es unfassbar, wie man ihren Bruder überhaupt in die Nähe eines Kinderschänders rücken konnte. Was bewies das schon, dass man ein paar dunkle Haare auf dem Fahrersitz des Autowracks gefunden hatte? Menschenskinder, es handelte sich schließlich um ein Familienauto!
Nur ging es hier nicht allein um die paar Haare – da machte sie sich nichts vor –, sondern um die Tatsache, dass Clay sich einen feuchten Kehricht um die Meinung anderer Leute scherte und aus dieser Einstellung auch keinen Hehl machte. Seine Gleichgültigkeit machte es allen nur allzu leicht, etwaige schlechte Charaktereigenschaften auf ihn zu projizieren, obwohl er dem Typus des Pädophilen in keiner Weise entsprach. Pädophile hielten sich vorzugsweise unter Kindern auf, machten sich an die Kleinen heran. Immer auf der Suche nach möglichen Opfern, nahmen sie Jobs an, die sie in deren Nähe brachten. Das war bei Clay nicht der Fall. Den häufigeren Kontakt mit Kindern hatte er erst, seit Grace eineinhalb Jahre zuvor Kennedy heiratete, der zwei Stiefsöhne mit in die Ehe brachte. Und natürlich seit seiner eigenen Heirat mit Allie, die ihm eine sechsjährige Tochter bescherte. Zuvor war er fast nie mit Kindern zusammen gewesen. Er hatte ja allein auf der Farm gewohnt und war lediglich ein-, zweimal die Woche in die Stadt gekommen, um einzukaufen oder in der Billardkneipe eine Partie Pool zu spielen.
Außerdem waren die Sachen schon vor zwanzig Jahren in den Kofferraum gelegt worden. Zu einem Zeitpunkt also, als Clay gerade mal sechzehn Jahre alt gewesen war.
Glücklicherweise war es Madeline trotz des ganzen Stresses gelungen, die Zeitung pünktlich fertigzustellen. Natürlich mit dem Artikel, der ihr solche Mühe bereitet hatte – dem Bericht über die Bergung des Autowracks. In der Ausgabe von kommender Woche sollte dann ein Artikel über Pädophile und deren typische Vorgehensweise erscheinen. Den schrieb sie gegenwärtig, in der Hoffnung, damit werde das ganze Gerede über Clay verstummen. Allerdings musste sie die Fertigstellung auf später verschieben. In vier Stunden sollte Hunter Solozano in Nashville eintreffen. Sie hatte eine lange Fahrt vor sich und wollte sich lieber nicht verspäten.
Sie schlüpfte in ihren Wollmantel, fuhr den Computer herunter und verließ das Haus zu der Seitenstraße hin, die zu dem geschotterten Parkplatz führte, auf dem sie ihren Wagen abgestellt hatte. Gerade schloss sie die Tür ab, da tippte ihr jemand von hinten auf die Schulter. Sie hatte niemanden kommen hören. Als sie erschrocken herumfuhr, sah sie, wer hinter ihr stand: Elaine Vincelli, einzige leibliche Schwester ihres Vaters.
Wenn sie dermaßen leicht in Angst und Schrecken zu versetzen war, dann beschäftigte sie sich in jüngster Zeit definitiv zu sehr mit düsteren Gedanken. Aber daran lag es längst nicht nur. Ihre Träume plagten sie immer schlimmer. Erst letzte Nacht war sie von Tante Elaine mit gezücktem Messer rund um die ganze Farm gejagt worden. “Was fällt dir ein?”, hatte Elaine lauthals geschrien. “Deinem Vater so in den Rücken zu fallen! Wie kannst du gemeinsame Sache mit dieser Mörderbande machen?”
Selbst jetzt lief es ihr kalt den Rücken herunter, denn das Geschrei hallte ihr noch in den Ohren wider. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, dass es ja nur ein Traum gewesen war, und begrüßte ihre Tante mit einem höflichen Lächeln.
“Hast du einen Moment Zeit?”, fragte Elaine.
Die Schlüssel noch in der Hand, stieß Madeline einen Seufzer aus. Die Temperaturen sackten bereits in den Keller, und das nächste Unwetter war schon im Anzug, sodass es bereits begann dunkel zu werden. Vermutlich war der Grund dafür, dass sie ihre Tante nicht bemerkt hatte: Sie war zu sehr darauf fixiert, vor Einsetzen des Regens loszufahren. “Stimmt etwas nicht?”, erkundigte sie sich.
“Nein, nein.” Ihre Tante machte den Eindruck, als erwarte sie, hereingebeten zu werden.
Da es nun auch zu nieseln begann, sah Madeline sich entsprechend verpflichtet. Ihre Ungeduld zügelnd, schloss sie die Tür wieder auf. “Möchtest du dich setzen?”, fragte sie ihre Tante und ließ sie vorangehen.
“Nein, danke.” In der
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