Totgesagt
Schau wie seine Dienstmarke. “Aber sonst ist keiner aus der Stadt einfach verschwunden.”
“Ein Obdachloser war das”, betonte Irene, indem sie etwas näher kam. “Ein Rumtreiber. Kann gar nicht anders sein. Wieso glaubt mir das keiner?”
Clay legte den Arm um sie und bat sie, sich nicht aufzuregen. Madeline zog derweil Grace mit sanfter Gewalt vom Tisch zurück. “Mike Metzger, der wohnte doch nur einen Katzensprung von uns entfernt”, argwöhnte sie. “Könnte er den Bikini vielleicht geklaut haben?”
Madeline hatte sich schon seit Langem auf Mike als Hauptverdächtigen eingeschossen. Eine Woche vor seinem Verschwinden hatte ihr Vater den damals 19-jährigen Mike beim Kiffen auf der Kirchentoilette ertappt und prompt angezeigt. Mike hatte sich daraufhin mit wüsten Drohungen revanchiert, doch die Verdachtsmomente gegen ihn reichten nicht für ein Ermittlungsverfahren. Gegenwärtig saß er eine Freiheitsstrafe ab, weil er in seinem Keller synthetische Drogen hergestellt hatte. Madeline ließ ihm auch im Gefängnis keine Ruhe und schickte ihm regelmäßig vorwurfsvolle Briefe.
Grace holte Luft und wollte schon etwas sagen, doch ehe sie ihren Einwand loswerden konnte, kam Chief Pontiff ihr zuvor. “Wir können ihn ja fragen. Er kommt in ein paar Tagen raus.”
“In ein paar Tagen?”, echote Irene. “Aber er sollte doch noch zwei Jahre absitzen!”
“Nein, nicht mehr. Er wird auf Bewährung vorzeitig entlassen.”
Mike Metzger konnte einem beinahe leidtun, dachte Grace. Sicher, er war ein unangenehmer Zeitgenosse, aber ein Mörder ganz sicherlich nicht. Und jetzt, nach der Entlassung aus der Haft, geriet er vermutlich gleich wieder in einen Sog aus ungeklärten Fragen zu Reverend Barkers Verbleib.
Sie musterte ihren Bruder. Ob dem wohl ebenfalls gerade Mikes Unschuld durch den Kopf ging? Vermutlich nicht, denn momentan starrte er über Irenes Kopf hinweg die auf dem Tisch liegenden Gegenstände an. Die dick hervortretende Halsschlagader verriet ihr, dass der Anblick ihn so tief traf, wie sie vermutet hatte. Sie hakte sich bei ihm unter und rieb die Wange an seiner Schulter, um ihm zu verstehen zu geben, dass man sich das endlich gefundene Lebensglück nicht durch diesen Fund zunichte machen lassen durfte.
“Wie geht’s Allie?”, fragte sie, als wolle sie ihn daran erinnern, was sie beide zu verlieren hatten.
Er blinzelte verwirrt und ließ Irene los, die in ihrer Handtasche nach Papiertaschentüchern kramte. Grace spürte, wie er nach Fassung rang, doch erst als Madeline hinzutrat, brachte er eine Antwort zustande. “Gut. Allie ist …” Seine Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug. “… ist halt Allie”, schloss er lakonisch, als sei der Name allein Glücksbringer genug. Genau das hatte Grace bewirken wollen.
“Alles in Ordnung?”, fragte Madeline.
“Alles bestens”, knurrte er und streckte seinen Nacken. “Aber wer das Zeug da in den Kofferraum getan hat, ist eine perverse Drecksau”, sagte er und verließ schnellstmöglich den Raum.
Grace schaute ihm erleichtert nach. Er hatte bewusst
ist
gesagt, nicht
war
. Beide hatten sie diese Situation bravourös gemeistert. Mit etwas Glück wuchs bald Gras über den Fund, und alle konnten wieder zum normalen Alltag zurückkehren.
Während Madeline dem Chief für seine Bemühungen dankte, stupste Grace ihren Mann an, um ihm zu signalisieren, dass sie das Treffen ebenfalls für beendet ansah. Mit der Unterwäsche und den anderen Utensilien in einem Raum – das konnte sie nicht viel länger aushalten. Sie war nicht mehr dieselbe Person, die sie damals gewesen war. Die Gracie, die damals wiederholt zähneknirschend ertragen musste, von ihrem Stiefvater missbraucht zu werden, die gab es nicht mehr. Die Gracie, die alles stumm über sich ergehen ließ, war tot. Ihren Schmerz, ihre Unzulänglichkeiten, ihre Bedürfnisse – all das würde die erwachsene Grace nicht mehr an sich heranlassen.
Schon halbwegs zur Tür gewandt, hörte sie dann aber Madeline etwas sagen, das sie wie angewurzelt innehalten ließ. “Wie lange wird es in etwa dauern?”
“Hängt vom Labor ab. Vielleicht ein paar Wochen, vielleicht auch Monate. Ohne konkreten Verdächtigen können wir die schwerlich zur Eile drängen.”
Grace wandte sich um. “Hast du etwa vor, die Sachen auf DNA-Spuren untersuchen zu lassen?”
Chief Pontiff nickte.
“Und welche von denen?”
“Sämtliche Gegenstände.”
“Aber das ist doch zwanzig Jahre her! Da hat sich die DNA
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