Totgesagt
Seitenstraße hatte Elaine noch angespannt, sogar ein wenig nervös gewirkt. Sobald die Tür sich hinter ihnen schloss, wurde sie merklich gelöster.
“Was kann ich für dich tun?” Madeline rang sich ein freundliches Lächeln ab, fühlte sich aber so unbehaglich wie schon lange nicht mehr. Ihre Tante und sie hatten sich nie sonderlich nahegestanden. Sie konnte sich noch erinnern, wie ihre leibliche Mutter einmal meinte, Elaine sei schwer zu durchschauen – so ziemlich das Negativste, was sie je über einen Menschen geäußert hatte. Vermutlich mochte Elaine in der Vergangenheit Eliza ebenso wenig wie heute Irene, was Eliza damals auch sicher nicht entgangen war. Madelines Mutter war viel zu bescheiden gewesen, viel zu lieb und zuvorkommend gegenüber jedermann. So jemand konnte nicht nach dem Geschmack der schnoddrigen Elaine sein, die rücksichtslos durchs Leben ging und nach der Devise handelte: Friss oder stirb!
Einmal war Madeline zufällig Zeugin eines Gesprächs zwischen ihrem Vater und seiner Schwester geworden. Darin hatte Elaine den Zustand seiner damaligen Ehefrau als mitleiderregend bezeichnet und vorgeschlagen, sie aufgrund ihrer chronischen Depressionen in die Psychiatrie einzuweisen, damit sie professionelle Hilfe bekam.
Angesichts dieser Lieblosigkeit seitens ihrer Tante konnte es niemand verwundern, dass Madeline nach dem Verschwinden ihres Vaters lieber bei Irene geblieben war. Ihre Großeltern mütterlicherseits, die im Jahr zuvor zweimal umgezogen waren und mittlerweile in Oklahoma wohnten, kannte sie kaum. Die Großeltern väterlicherseits waren verstorben. Irene hatte ihr in den drei Jahren, die Madeline damals mit ihr zusammenlebte, mehr Zuneigung geschenkt als ihre Tante im ganzen Leben. Selbst in den dunklen Tagen nach Elizas Selbstmord hatte Elaine sich nie um das zehnjährige Mädchen gekümmert, das ihre Schwägerin mutterlos hinterlassen hatte.
Was also trieb Elaine ausgerechnet jetzt zu ihr?
“Chief Pontiff schaute gestern Abend bei uns vorbei”, sagte ihre Tante.
“Hatte er was Neues zu berichten?”, fragte Madeleine gespannt. Sie nahm zwar an, dass Toby sie vorher verständigt hätte, konnte sich aber keinen anderen Grund für den Besuch ihrer Tante vorstellen.
“Nein, noch nicht. Er hat mir erzählt, dass du einen Privatdetektiv eingeschaltet hast.” Sie verschränkte die Arme über der Brust. Die weißen Strähnen an ihren Schläfen standen in scharfem Kontrast zu ihrem ansonsten pechschwarzen Haar. Die straff zurückgekämmte Frisur erinnerte Madeline an die Meereshexe Ursula aus Walt Disneys “Arielle, die kleine Meerjungfrau”. “Stimmt das?”
Worauf mochte sie abzielen? “Ja. Ich habe jemanden engagiert, der ein Meister seines Fachs sein soll. Warum?”
“Genau das frage ich dich”, konterte sie. “Warum? Wozu die Mühe? Chief Pontiff rollt doch die Sache schon neu auf. Reicht das nicht?”
“Jedenfalls nicht, wenn man die bisherigen polizeilichen Ermittlungen betrachtet”, sagte Madeline. “Ich weiß, Toby ist nicht begeistert davon, dass ich einen Außenseiter hinzuziehe. Das hat er mir schon klargemacht. Aber er mag ja noch so sehr um Neutralität bemüht sein – letzten Endes wird er höchstwahrscheinlich in denselben eingefahrenen Bahnen ermitteln wie seine Vorgänger.” Schließlich hatte er ja bei der Untersuchung des Wracks bereits Allies Amtshilfeangebot abgelehnt. Das ließ Madeline allerdings lieber unerwähnt, denn vielleicht steckte ja ausgerechnet ihre Tante dahinter. “Du hast ja sicher von den schwarzen Haaren gehört, die am Fahrersitz des Cadillacs sichergestellt wurden.”
“Lässt du diesen Privatschnüffler deshalb kommen?”, fragte Elaine. “Wegen der Montgomerys?”
“Zum Teil schon.”
“Meiner Ansicht nach bringt das nichts. Sämtliche Indizien weisen auf die Montgomerys. Jeder Ermittler, der einen Schuss Pulver wert ist, wird das sofort erkennen.” Sie senkte die Stimme. “Und beim nächsten Mal wird Clay nicht so glimpflich davonkommen.”
Sollte das etwa eine Warnung sein? In Hinsicht auf Clay? Das leuchtete Madeline nicht ein. Seit Jahren schon konnten Elaine und ihre Familie es gar nicht abwarten, die Montgomerys – und besonders Clay – endlich hinter Gittern zu sehen. “Zumindest müsste so ein ortsfremder Ermittler der Sache doch unvoreingenommener gegenüberstehen”, gab Madeline zu bedenken.
“Ob der unvoreingenommen ist oder nicht, das spielt doch hierbei gar keine Rolle. Beweis ist
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