Totgesagt
Die Fetisch-Theorie jedenfalls erschien ihm abwegig.
“Warum nicht?”
“Na, überlegen Sie mal! Das Köfferchen lag nicht etwa in einem Schrank versteckt oder unter einem Bett, also nicht an einem Ort, wo ein Fetischist ungestört seine Fantasien ausleben könnte. Sondern im Kofferraum eines Autos. Hinzu kommen die unterschiedlichen Größen der Slips, was wiederum bedeutet, dass sie aus mehr als einer Quelle stammen. Derjenige, der die Dinger im Kofferraum versteckte, der litt unter einer ausgewachsenen Triebanomalie. Da gehe ich jede Wette ein.” Er ahnte, dass Madeline seinen Verdacht teilte, sonst hätte sie nicht am Straßenrand angehalten, um ihm die Sache zu beichten. “Befand sich irgendwas auf den Fundstücken?”, fragte er.
Sie schaute ihn perplex an. “Sie meinen ein Muster … oder Aufdruck?”
“Ich meine Blut- oder Samenspuren.”
“Davon weiß ich nichts”, antwortete sie, wobei sie keinen Hehl aus ihrer Abscheu vor diesem Gedanken machte. “Toby hat sie erst vor ein paar Tagen ans zentrale kriminaltechnische Labor geschickt. Er meint, die Untersuchung könne dauern. Womöglich Monate.”
“Wer ist Toby?”
“Toby Pontiff. Der Leiter der Polizeiwache hier in Stillwater.”
Hunter hätte ihr die nächste Frage gern erspart, doch sie ließ sich nicht umgehen. “Wäre es möglich, dass diese Gegenstände Ihrem Vater gehörten?”
Sie war ehrlich entrüstet. “Natürlich nicht!”, rief sie mit ehrlicher Empörung in der Stimme.
“Woher stammen sie dann?”
“Na, von seinem Mörder! Chief Pontiff und ich … also wir … vermuten, dass der Besitzer der Reisetasche womöglich bei meinem Vater gebeichtet hat und dass mein Vater ihn anzeigen wollte.”
“Ein Schweigemord.”
“Wenn Sie’s so nennen wollen.”
Irgendjemand hatte das Auto des Reverend in seinen Besitz gebracht. Und dieser Jemand nutzte möglicherweise die Gunst der Stunde, um belastendes Material loszuwerden. Nur passte es leider überhaupt nicht zu einem Täter, der solche Dinge als Souvenirs sammelte, sich von seinen “Andenken” freiwillig wieder zu trennen.
Es sei denn, er hätte befürchtet, dass ihm jemand auf den Fersen war …
“Könnte sein …”
“Ich sollte auch erwähnen, dass die Polizei schwarze Haare am Fahrersitz gefunden hat”, sagte sie mürrisch.
“Werden die auch auf DNA-Spuren untersucht?”
“Nein. Später vielleicht, aber zur Stunde bringt das wohl nichts. Sie sehen aus wie die von Clay und sind es wahrscheinlich auch. Er ist doch andauernd in dem Wagen rumgeturnt. Wie wir anderen auch.”
“Könnte es denn sein, dass die Tasche ihm gehört hat?”
“Ausgeschlossen. Mein Stiefbruder könnte einem Kind kein Haar krümmen.”
Darüber wollte Hunter sich lieber selbst ein Bild machen, sobald er Clay kennenlernte. “Wie verlief das Sexleben Ihrer Eltern?”, fragte er sie.
Der plötzliche Themenwechsel erwischte sie anscheinend auf dem falschen Fuß. Sie erbleichte, als tauche vor ihr plötzlich ein Bild auf, das sie nur ungern sah. “Normal, würde ich sagen. Wie war das denn bei Ihren Eltern?”
Das Thema war ihr offenbar peinlich. Er dachte aber gar nicht daran, sich dafür zu entschuldigen. “Ich kann Ihnen unangenehme Fragen nicht ersparen. Die müssen Sie in Kauf nehmen, wenn Sie der Wahrheit auf den Grund gehen wollen.”
“Darf ich daraus schließen, Sie nehmen den Auftrag nun doch an?” Sie reckte das Kinn. “Oder ist der Fall plötzlich eine Nummer zu groß für Sie?”
Sie forderte ihn heraus. Allem Anschein nach glaubte sie, er werde sich davon beeinflussen lassen.
Hunter hatte zu lange eine ruhige Kugel geschoben. Jetzt war ihm auf einmal, als stünde er am Rande eines Abgrundes, kurz vor dem Sprung in die Tiefe. Nahm er den Auftrag an, verließ er die relative Sicherheit seiner persönlichen Ängste und Nöte und bürdete sich dafür die von Madeline auf. Die Aussicht darauf, dass der Besitzer der ominösen Reisetasche noch weiteren Mädchen nachstellen könnte, die machte ihm eine Absage eigentlich unmöglich. Von allein hörten Pädophile gemeinhin nicht auf; man musste ihnen immer erst das Handwerk legen.
“Ich übernehme den Fall”, sagte er. “Aber den Rest der Strecke fahre ich.”
“Wie bitte?” Sie guckte ihn konsterniert an.
“Wann haben Sie das letzte Mal ordentlich geschlafen?”
“Ach, mir fehlt nichts!”
Sie ließ den Motor an, doch als sie den Gang einlegen wollte, hinderte Hunter sie daran. “Entweder ich fahre, oder wir
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