Totgesagt
Vaters führen können, oder? Irgendetwas wurde offensichtlich übersehen. Was bedeuten könnte, dass man an den falschen Stellen gesucht hat.”
“Dann möchten Sie die Akten gar nicht einsehen?”
Sie wollte unter die Dusche. Allerdings hatte sie einen sündhaft teuren Privatermittler einsatzbereit in ihrer Küche sitzen. Sie konnte es sich nicht leisten, ihn warten zu lassen, bis sie sich einigermaßen von Kirks unerwartetem Besuch erholt hatte. “Was sollen Ihnen meine alten Fotoalben denn schon verraten?”, fragte sie.
“Sie vermitteln mir einen Eindruck von Ihnen. Wer Sie sind, wer Ihr Vater war. Vielleicht bekomme ich dadurch auch ein Bild von Irene, Clay, Grace und Molly.” Er stützte die Ellbogen auf den Tisch. “Sie haben doch ein paar alte Alben, oder?”
Sogar mehr, als er in einem Leben durchforsten konnte. Sie war die Königin der Erinnerungsstücke. Für jemanden, der sogar Alufolie hortete, waren Fotos sozusagen heilige Relikte. “Ich habe auch Dinge aus dem Nachlass meines Vaters.”
Als Clay im vergangenen Sommer dessen Arbeitszimmer in der Scheune auflöste, hatte er angeboten, alles, was er zusammengepackt hatte, dort für sie zu lagern. Allerdings hatte Clay nicht nur Klarschiff gemacht, sondern zudem die Wandvertäfelung, die Klimaanlage im unteren Teil des Fensters und sogar den Teppichboden entfernt. Madeline gefiel der Gedanke nicht, dass die persönlichen Gegenstände ihres Vaters nicht an ihrem angestammten Platz bleiben durften. Dann wollte sie den Nachlass zumindest ganz in ihrer Nähe haben, nicht auf dem bloßen Estrich eines Büros, das sie nicht mehr wiedererkannte.
“Hier im Haus?”, fragte Hunter.
“Ja, unten im Keller.” Sie stand auf. “Ich hole sie hoch.”
“Essen Sie doch erst einmal zu Ende!”
“Ich bin fertig.” Sie stellte ihr Geschirr auf die Küchenspüle und wandte sich zur Kellertür. Sie hatte zwar nicht damit gerechnet, dass Hunter ihr folgte, aber er tat es. Offenbar registrierte er jede Einzelheit und katalogisierte alles, was er hörte oder sah.
Wie also mochte er es wohl einschätzen, dass im Haus helle, frische Grundfarben dominierten? Würde er glauben, dass sie im Grunde eine Frohnatur war und die Sonne mochte? Oder dass sie sich schrecklich fürchtete vor jener Form von Depression, die ihre Mutter befallen hatte?
Madeline war sich zwar nicht sicher, ging jedoch davon aus, dass ihr Keller mehr über die neurotische Sammelwut verraten würde, als ihr lieb sein konnte. Molly regte sich immer kolossal über den ganzen Krempel auf. Deswegen hatte Madeline auch nie durchblicken lassen, wie schwer ihr der Garagenverkauf damals gefallen war. Möglich, dass Molly es ahnte, denn Madeline hatte sich mittendrin verdrückt. Gesprochen hatten sie darüber aber nie.
Sie litten eben alle unter eigenen Problemen. Molly beispielsweise durfte sich nie länger als eine Woche in Stillwater aufhalten – aus Angst, sie käme dann überhaupt nicht mehr von hier los. Die ersten Tage, so sagte sie immer, die machten noch Spaß, vor allem das Wiedersehen mit der Familie. Blieb sie aber länger, kam Stillwater ihr vor wie Treibsand, in dem sie regelrecht versackte. Dass Madeleine nie von ihrem Heimatort losgekommen war, dass sie ihren Traum von einer Korrespondenten-Karriere bei der
Washington Post
nie umgesetzt hatte, das alles verschlimmerte zweifellos noch Mollys Phobie.
“Ich hole nichts Schweres”, bemerkte sie, die Hand schon auf der Klinke. “Sie können ruhig im Wohnzimmer warten.”
“Ist es nur ein Karton?”
“Das nicht …” Es waren vielmehr etliche, und alle auf einmal konnte sie nicht tragen. Vernünftiger war es schon, sich von ihm helfen zu lassen. Allerdings wollte sie ihre Probleme nicht aus seiner Warte betrachten. Besonders jetzt nicht …
Sie nahm sich vor, einmal ordentlich auszumisten, sobald sie sich wieder einigermaßen stabilisiert hatte. Vielleicht war ja Schluss mit dem ständigen Zurückblicken, wenn sie endlich erfuhr, was mit ihrem Vater geschehen war. Dann konnte sie sich von all dem, was sie jetzt noch so zwanghaft hortete, möglicherweise endlich trennen. Hoffte sie jedenfalls. Immer schön ein Problem nach dem anderen, nicht wahr?
“Ist es denn nötig, die alle nach oben zu schleppen?”, fragte sie.
“Wir sind ja zu zweit. Da können wir doch zumindest ein paar auf einmal holen.”
Eine weitere Diskussion hätte Hunter nur noch misstrauischer werden lassen. Wozu sich den Kopf darüber zerbrechen, was er
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