Totgesagt
hatten es meine Eltern nicht eilig mit einem neuen Versuch. Deshalb …” Fast kam es ihr wie ein Frevel vor zu enthüllen, was sie als Nächstes sagen wollte. Sie hatte ihre Mutter als Thema jedoch schon so lange ausgeklammert, dass sie auf einmal das Bedürfnis verspürte, über sie zu reden und die vielen Widersprüche zu klären. Dass Hunter von außerhalb kam, betrachtete sie als ausgesprochen hilfreich. Er kannte ja Eliza nicht von früher und hatte keinerlei vorgefasste Meinung, so oder so.
“Deshalb?”, hakte er nach.
“… schliefen sie in getrennten Schlafzimmern.”
“Jede Nacht?”
“Kann ich nicht sagen. Ich hatte meine Mutter ja nur während der ersten zehn Lebensjahre um mich. Damals fand ich nichts dabei, dass sie in unterschiedlichen Zimmern schliefen. Meine Mutter behauptete, er schnarche so laut, dass sie nicht schlafen könne. Daher die getrennten Schlafzimmer.”
“Und Ihrem Vater machte das nichts aus?”
In seiner Frage lag ein Unterton, der Madeline vermuten ließ, dass ihn dieser Punkt offenbar stark beschäftigte. “Eigentlich nicht”, antwortete sie. “Viel mehr ärgerte es ihn, dass ich bei ihr schlafen durfte. Er meinte, sie verhätschele mich zu sehr.”
“Vielleicht wollte er sie auch ab und zu besuchen, und das ging nicht, wenn Sie da waren.”
“Das wurde immer schon erledigt, bevor wir schlafen gingen.”
“Erledigt? Meine Güte, das klingt ja, als wäre es eine lästige Pflichtübung gewesen!”
“Ich will damit nur sagen, es war nicht so, als hätten sie gar keinen Sex gehabt, okay?”
“Woher wollen Sie das wissen?”
“Ich weiß es eben”, gab sie zurück, wenig erpicht darauf, das Thema zu vertiefen.
“Ich habe den Eindruck, Sie waren ihr lieber als er. Das hat ihn vielleicht gefuchst.”
Madeline sparte sich eine Erwiderung. Wie die meisten Kinder war sie so auf sich fixiert gewesen, dass sie die Zuwendung ihrer Mutter nie infrage gestellt hatte. Sie war einfach da – wie Sonne, Wind und Regen. In der Rückschau musste sie Hunter vielleicht recht geben. Im Herzen ihrer Mutter hatte sie mit Sicherheit den ersten Platz eingenommen. “Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt”, flüsterte Eliza immer, wenn sie ihre Tochter abends an sich drückte und in den Armen wiegte.
Es war lange her, dass Madeline diese Worte in den Sinn kamen. Wahrscheinlich deshalb, weil sie ihr nach dem Selbstmord der Mutter wie eine Lüge erschienen waren.
Sie presste die Augenlider zusammen. Der Verlust schmerzte sie heute noch fast so sehr wie damals …
Hunter blätterte indessen eine weitere Seite um. Auf dem nächsten Foto präsentierte Madelines Mutter stolz eine Geburtstagstorte mit neun Kerzen. “Ich sehe viele Bilder von Ihnen, ein paar von ihr, aber nicht allzu viele von Ihrem Vater”, bemerkte er.
“Wie ich bereits sagte, er arbeitete viel. Er ging in seiner Kirchenarbeit so richtig auf.”
“Er war nicht auf Ihrem Kindergeburtstag?” Außer diesem einen mit ihrer Mutter und der Geburtstagstorte zeigten die anderen Fotos ausschließlich Madeline mit ein paar Spielkameraden.
“Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht mehr daran. Ich weiß noch, dass die Mutter einer Freundin die Bilder knipste. Also war er wahrscheinlich nicht anwesend.”
“Und Sie haben ihn nicht vermisst?”
“Nein. Ich hatte ihn lieb, nur … so richtig nähergekommen sind wir uns erst nach dem Tode meiner Mutter. Sie war so eine Art …” Es kostete Madeline einige Mühe, ihre Erinnerungsfragmente in Worte zu fassen. “… Vermittler zwischen uns, nehme ich an.”
“Das alles hört sich nicht gerade so an, als wären Ihre Eltern sonderlich glücklich miteinander gewesen”, meinte er.
Sophie spazierte aus der Küche ins Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen. Madeline streichelte ihr über das weiche Fell. “Jede Ehe ist anders. Es gab manchmal Reibereien, aber das ist wohl normal, oder?”
“Glauben Sie, sie wären heute noch verheiratet, wenn Ihre Mutter noch lebte? Wenn das mit Ihrem Vater nicht passiert wäre?”
“Natürlich. Dad war für Scheidung nicht zu haben.”
“Unter keinen Umständen?”
Sophie sprang ihr auf den Schoß und fing an zu schnurren. “Er hielt sie für Sünde.”
“Wie so ziemlich alles andere.”
“Wie ich bereits betonte, war er eben ein sehr religiöser Mensch. Er meinte, Moms Depression sei eben das Kreuz, das er zu tragen habe. Er erwähnte es sogar in seinen Predigten. Viele davon stecken übrigens hier in diesem Karton.”
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