Totgesagt
sie.
Erst jetzt stellte er fest, dass er lächelte. “Mir kam gerade Tom Sawyer in den Sinn.”
“Bleiben Sie mir bloß vom Leibe, sie mit Ihrer Westküsten-Überheblichkeit”, sagte sie im betont akzentuierten Südstaaten-Slang.
Er dachte kurz über die Unterschiede zwischen ihren beiden Heimatstaaten nach und beschloss, dass Kalifornien zwar nicht besser war als Mississippi, aber doch völlig anders. “Solange Sie mir keine traditionelle Kohlsuppe vorsetzen, kommen wir schon klar”, flachste er.
“Haben Sie die überhaupt schon mal probiert?”
“Das nicht, aber ich mag auch keinen Spinat.”
Als sie auf die das ganze Haus umgebende Veranda traten, hörten sie den sanften Klang eines Windspiels. Die Bohlen knarrten leise unter ihrem Gewicht.
“Ihr Stiefbruder hält den Hof ja gut in Schuss”, lobte er.
“Allerdings. Er sieht sogar gepflegter aus als zu den Zeiten, als mein Vater noch … äh … hier war.”
Sie machte oft den Eindruck, als wüsste sie nicht genau, ob sie “lebte” sagen sollte oder nicht. Im Allgemeinen vermied sie den Ausdruck. Vermutlich mochte sie einfach nicht glauben, dass er tot war. Nach zwanzig Jahren nicht, und auch nicht nach der Bergung des Wagens aus dem nahe gelegenen Baggersee. Diese Ungewissheit musste ihr wohl sehr zusetzen. “Wie hat er sich denn verändert?”, hakte er nach.
Sie hob die Schultern. “Das Haus war früher in so einem hässlichen, schmutzigen Grün gestrichen. Auf dem Rasen wuchs Unkraut und überall dort, wo unser Hund gebuddelt und alles Mögliche vergraben hatte, standen Erdhügel.”
“War es Ihrem Vater denn egal, wie der Hof aussah?”
“Ich glaube nicht, dass er da groß drauf geachtet hat. Er war ein bisschen wie ein verrückter Wissenschaftler – dermaßen in seine Arbeit vertieft, dass ihm die Welt ringsum gar nicht mehr auffiel.”
“Aber sagten Sie nicht, er hätte immer großen Wert auf beispielhaftes Verhalten gelegt?”
“In mancher Hinsicht war das auch so. Er reagierte mit drakonischen Strafen, wenn wir etwas sagten oder taten, das ein schlechtes Licht auf ihn warf. Nach seiner Meinung mussten die Kinder eines frommen Predigers fleißig, besonnen und bibelfest sein.”
Allmählich wurden Hunter die Menschen aus Madelines Leben schon vertrauter. Er hatte ein paar Fotos von ihrem Vater gesehen und wusste daher, dass er ein großer und imposanter Mann war: hohlwangig, mit stechenden schwarzen Augen und einem energischem Kinn. Ihre Mutter war das genaue Gegenteil gewesen – klein, zierlich, sanft. Von ihrem Vater hatte Madeline offensichtlich die schlanke, hochgewachsene Statur, doch ihre flaschengrünen Augen erinnerten eher an die ihrer Mutter, ebenso wie die glatte, porzellanweiße Haut. Er hätte gern gewusst, wem sie ihr kastanienbraunes Haar verdankte. Möglicherweise einer Großmutter oder Tante. Die entferntere Verwandtschaft hatte er ja noch nicht kennengelernt, doch vermutlich würde er später in seinen Ermittlungen auf entsprechende Fotos treffen.
“Hatte er eines der Kinder besonders auf dem Kieker?”, fragte er.
“Am strengsten war er zu Clay. Aber Väter gehen ja oft mit ihren Söhnen etwas derber um als mit den Töchtern.”
“Könnte man von einem engen Verhältnis zwischen den beiden sprechen?”
“Eher weniger.” Sie wirkte nachdenklich, beinahe philosophisch. “Dazu waren die beiden zu unterschiedlich.”
Hunter hätte gern noch erfahren, inwiefern Vater und Sohn so schlecht zusammenpassten, aber Madeline hatte bereits an die Haustür geklopft. Eine zierliche Frau mit kurzem, braunem Haar und braunen Augen öffnete ihnen die Tür, noch ehe Hunter genauer nachfragen konnte.
“Hi, Maddy.” Sie umarmte Madeline und wandte sich anschließend Hunter zu. “Das ist sicher dein Detektiv.”
“Ja, der Beachboy mit der Gitarre”, witzelte Madeline.
“Boy?”, echote er, leicht pikiert – zumal er mitgehört hatte, wie sie ihrem Ex gegenüber sagte, er sei zu jung für sie.
Sie redete ungerührt weiter. “Allie, darf ich dir Hunter Solozano vorstellen. Hunter, das hier ist meine Schwägerin. Die einzige Frau, die den Heiratsmuffel Clay hat einfangen können.”
“Ich glaube, das Einfangen war noch die leichteste Übung – jetzt muss ich permanent gegen seinen Fluchtinstinkt angehen”, kicherte Allie.
“Wundert mich eigentlich nicht, dass Clay eine echte Herausforderung darstellte”, sagte Hunter.
“Mehr als das”, ergänzte Madeline. “Für die meisten Frauen hier in der
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