Totgesagt
ihres Zimmers aufgefunden.
Nackt? Das kam ihm merkwürdig vor. Er hatte noch nie von einem Fall gehört, in dem sich jemand vor einem Selbstmord extra ausgezogen hätte. Erst recht kein blutjunges 16-jähriges Mädchen.
Ungewöhnlich war auch, wie Eliza das Wort “nackt” notiert hatte. Normalerweise schrieb sie in einer schönen, fließenden Handschrift, genau so sauber, wie er sich ihren Haushalt vorstellte. NACKT stach da regelrecht hervor, weil es in Blockbuchstaben gesetzt und mehrfach nachgezeichnet war, bis es so tief ins Papier eindrückte, dass man es auch auf der Rückseite noch lesen konnte.
Er fuhr mit dem Finger über die wie eingestanzt wirkenden Lettern.
Wie gut hatte Eliza das Mädchen wohl gekannt?
Hunter durchforschte auch die anderen Tagebücher, fand jedoch, anders als bei Katie, keine früheren Hinweise auf Rose Lee. Möglicherweise befanden sie sich ja auf den fehlenden Seiten. Das waren nämlich etliche.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. “Haben Sie etwa noch nicht geduscht?”, fragte Madeline, als er öffnete.
“Ich war ganz in die Lektüre der Tagebücher vertieft.”
“Und was ist mit dem Besuch auf der Farm?”
“Ich fahre einfach so mit und dusche dann, sobald mein Gepäck nachgeliefert ist.” Über die Schulter warf er einen Blick auf die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Materialien. “Was wissen Sie über eine Rose Lee Harper?”
“Rose?”, wiederholte sie. “Wo haben Sie denn den Namen aufgeschnappt?”
“Ihre Mutter erwähnt ihn ziemlich oft.”
“Ach so …” Sie straffte den Trageriemen ihrer Handtasche. “Dürfte mich eigentlich nicht wundern. Meine Mutter war sehr mitfühlend. Und das mit Rose, das war so was von traurig …”
Er trat über die Schwelle und zog die Haustür hinter sich ins Schloss. “Laut Eintrag hat sie sich das Leben genommen.”
“Stimmt. Aber ihr ganzes Leben war ein Trauerspiel.” Sie gingen an dem Truck, den er am Abend zuvor gesehen hatte, vorbei und näherten sich ihrem Corolla. Dort angelangt, warf Madeline ihm die Autoschlüssel zu.
“Soll ich fahren?”, fragte er.
“So lernen Sie, sich besser zurechtzufinden.”
“Wieso war das Leben von dieser Rose ein Trauerspiel?”, hakte er nach, während er sich hinters Lenkrad klemmte.
Madeline stieg auf der Beifahrerseite ein. “Als sie klein war, da zog ihre Mutter zu einem anderen Mann in einen anderen Bundesstaat. Die kleine Rose ließ sie in der Obhut des Vaters, Ray Harper. Der erwies sich allerdings nicht gerade als Mustervater.” Während er rückwärts aus der Einfahrt setzte, kramte Madeline ein elastisches Haarband aus der Handtasche.
“Was hat er denn falsch gemacht?”
“Er war immer knapp bei Kasse und …” – sie rückte sich den Rückspiegel so zurecht, dass sie sich das Haar zu einem Pferdeschwanz bündeln konnte – “… und das bisschen Geld, was er besaß, das gab er anfangs für Schnaps aus.”
Schnaps … Schon bei dem Wort überkam Hunter das Verlangen nach einem Drink, das er aber rasch verdrängte. Seit er Kalifornien verlassen hatte, ging es ihm schon erheblich besser. “Änderte sich das?”, fragte er, wobei er auf dem engen Weg von Madelines Haus zur Landstraße die Schlaglöcher umkurvte.
“Er wurde streng religiös, arbeitete drüben in der Kirche eng mit meinem Vater zusammen und brachte dann immer auch seine Tochter mit. Die half sogar hin und wieder auf der Farm aus.”
“Im Haushalt?”
Madeline drehte den Rückspiegel wieder zurück und wies am Stoppschild nach links. “Sie kümmerte sich um die Aktenablage und räumte das Arbeitszimmer meines Vaters auf.”
“War er denn so unordentlich?”, fragte Hunter. “Er kommt mir eher wie der gut durchorganisierte Typ vor.”
“War er auch überwiegend. Auf der Farm, da ließ er auch mal ein paar Dinge liegen, aber bei seiner Gemeindearbeit war er immer sehr akkurat. Ich glaube, es ging eher darum, dass er ihr etwas zu tun geben wollte, für das er sie bezahlen konnte. Rose und ihr Vater brauchten das Geld nämlich dringend. Ohne meinen Vater wären sie wohl nie zurechtgekommen.”
“Arbeitete Roses Vater denn nicht?”
“Ray ist Handlanger, so eine Art Mädchen für alles. War er damals schon. Manchmal bekam er einen Job, dann wieder nicht.”
Hunter lockerte den Sicherheitsgurt ein wenig. “Wenn Ihrem Vater so viel daran lag, den beiden unter die Arme zu greifen – warum hat er Harper dann nicht gleich auf der Farm beschäftigt und mit Reparaturen
Weitere Kostenlose Bücher