Totgesagt
Erstens musste er sich um mich kümmern, und zweitens hatten es die Leute generell schwerer; da war in der Kirche nicht mehr allzu viel zu verdienen. Wir kamen gerade so über die Runden. Dann heiratete er Irene und hatte mit der Erziehung von drei zusätzlichen Kindern alle Hände voll zu tun.”
“Hat sich denn eigentlich niemand gewundert, dass Katie nackt aufgefunden wurde?”, fragte er.
Madeline legte die Stirn in Falten. “Sie war nackt?”
“So steht’s jedenfalls im Tagebuch Ihrer Mutter.”
“Das weiß ich nicht mehr. Bei ihrer Beerdigung war ich ja erst acht oder neun. Da hätte man so was vor mir nicht besprochen.”
“Mir will nicht so recht in den Kopf, dass sich eine junge Frau erst sämtliche Kleidung auszieht und dann eine Überdosis Schlaftabletten nimmt”, erklärte er.
“Vielleicht hatte sie vorher ein Schäferstündchen.”
“Wissen Sie noch, ob Rose einen Freund hatte?”
“Nein. Ich kann mir auch überhaupt nicht vorstellen, dass sie mit jemandem ging. Sie war extrem schüchtern. Nach Katies Tod arbeitete sie nicht mehr bei meinem Vater, und in der Stadt sah man sie nur selten. Einmal lief sie mir über den Weg, aber da schaute sie mich nicht mal an, sondern zu Boden.”
“Sie würden also sagen, dass ihr Katies Tod sehr zu schaffen machte?”
“Mehr als jedem sonst. Vermutlich hat sie sich von dem Kummer nie erholt.”
“Wie kommen Sie darauf?”
“Vor Katies Unfall, da benahm sie sich zeitweise fast normal. Danach …” – sie zuckte die Schultern – “… danach sagte sie kaum noch ein Wort.”
11. KAPITEL
D ie Farm stellte sich als wesentlich größer heraus, als Hunter es erwartet hatte. “Und das hier bewirtschaftet Clay ganz allein?”, fragte er, als sie am Rande einer langen Kieseinfahrt parkten und ausstiegen.
“Ganz recht. Unglaublich, oder?”
Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Bestimmt kein Zuckerschlecken, einen solch großen Besitz in Schuss zu halten. Und doch hatte es den Anschein, als habe Clay den Laden gut im Griff. Jedenfalls hatte Madelines Stiefbruder vor harter Arbeit offenbar keine Angst, das musste man ihm lassen. Andererseits wunderte Hunter sich über einige Bemerkungen, die sie über Clay hatte fallen lassen. Einerseits klang es, als sei er engagiert, fürsorglich, resolut. Andererseits hatte Madeline angedeutet, dass ihm leicht die Sicherung durchbrannte, was man in einem potenziellen Mordfall nicht unbeachtet lassen durfte. Die subjektiven Eindrücke der verschiedenen Parteien waren häufig wertvoller als die Fakten allein. Tatsachen konnten unterschiedlich ausgelegt werden. Aber die Perspektive der Menschen im Umfeld des Reverend, die würde am Ende den Ansatz liefern, der zur Lösung des Falles führte.
“Hier sind Sie also groß geworden”, sagte er und gab ihr die Autoschlüssel zurück.
Madeline nickte und steckte sie in ihre Handtasche.
Sie standen vor einem weißen Haus mit zwei Etagen, die von einem Satteldach eingefasst waren, das fast bis zum Erdboden reichte. Es lag ein gutes Stück abseits der Straße, war nicht gerade riesig, aber auch nicht gerade winzig. Hunter schätzte es auf etwas über 200 Quadratmeter Wohnfläche. Hinter dem Haupthaus stand eine ziemlich stattliche Scheune. Der Wind wehte den Geruch von Vieh zu ihnen herüber; in der Ferne hörte man Gackern. Offenbar befand sich ein Hühnerstall gleich neben der Scheune.
Wie zur Bestätigung stolzierte just in diesem Moment ein Hahn um die Ecke. Hunter konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal einen lebendigen Gockel zu Gesicht bekommen hatte. An den Stränden von L.A. kamen diese Tiere ja eher selten vor.
Madeline merkte, dass Hunter seinen Schritt verlangsamte, und blieb stehen. “Seien Sie froh, dass das nicht der Bursche ist, den wir früher hier hatten”, sagte sie.
“Wieso froh?”
“Der wäre Ihnen gleich ins Gesicht gesprungen. Wir hatten eine Heidenangst vor dem Vieh. Besonders Grace. Der Kerl verteidigte sein Territorium mit Schnabel und Krallen.”
Hunter versuchte sich einen schwülen Sommertag am Rande von Stillwater vorzustellen. Eine Horde Kinder in Latzhosen und mit staubigen nackten Füßen drängte sich vor dem alten Cola-Automaten des örtlichen Gemischtwarenhändlers, um ihren Durst zu löschen. Es war eine völlig andere Welt als in Mission Viejo, einem der besseren Vororte von Los Angeles, wo er aufgewachsen war. Dennoch hatte es einen gewissen Reiz, dieses ländliche Idyll.
“Was ist?”, fragte
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