Totgeschwiegen (Bellosguardo)
dass Bewegungen möglichst zu vermeiden waren. In der letzten Nacht vor ihrer Abreise wäre sie zudem beinahe von Frau Kleber beim Aussteigen erwischt worden. Anna hatte sich gerade durch ihr Fenster gequetscht und wollte den dunklen Weg entlangschleichen, als sie Frau Kleber mit einer Taschenlampe das Gebüsch um das Mädchenhaus absuchen sah. Ihr war das Herz in die Hose gerutscht. Sie hatte sich an die Hauswand gepresst und die Luft angehalten. Fast wäre sie wieder umgedreht, aber dann wäre Domenik enttäuscht oder vielleicht sogar sauer gewesen und das wollte sie vor der Abreise in zwei Wochen Weihnachtsferien nicht riskieren. Obwohl, ganze zwei Wochen wäre sie ja gar nicht von ihm getrennt, wenn ihr Vater ihr erlauben würde, Silvester in Hamburg zu verbringen. Ob ihr Vater das allerdings tatsächlich gestatten würde, wagte sie stark zu bezweifeln. Und eigentlich freute sie sich auch sehr auf ihren Vater, den sie schon so lange nicht gesehen hatte.
Anna legte ihr Handy mit der Bordkarte auf den Scanner und ging durch die Schranke in Richtung wartenden Bus.
Sie sah sich um. Einen pickligen, blassen jungen Mann konnte sie bislang unter den Passagieren nicht entdecken.
In ihrer direkten Umgebung standen nur italienische Geschäftsmänner. Sie reckte den Hals und lies den Blick weiter durch den Bus schweifen. Vielleicht war er doch nicht auf diesem Flug? Anna griff wieder nach ihrem Handy. Eine weitere neue Nachricht von Domenik wartete auf sie.
Lass dich nicht dumm anquatschen. Melde dich sofort, wenn du angekommen bist. Ich liebe dich.
Meinte er jetzt schon wieder Constantin? Anna verdrehte unwillkürlich die Augen. Als ob sie nicht selbst auf sich aufpassen könnte. Aber vielleicht machte er sich einfach nur Sorgen, dass ihr auf der Reise nichts passierte. Ja, wahrscheinlich war es nur das. Und bei den Worten „ich liebe dich“ wurde ihr ganz warm ums Herz. Er war immer noch online. Sie musste ihm noch antworten, bevor sie das Handy für den Flug abschalten musste. Das erwartete er jetzt bestimmt von ihr.
Sie tippte schnell ein „Ich liebe dich auch“ in ihr Smartphone ein.
Scheinbar hatte das mit der Sitzplatzreservierung nicht geklappt. An na quetschte sich neben dem gutaussehenden Mann vorbei an ihren Fensterplatz. Aus dem Augenwinkel warf sie ihm kurz einen prüfenden Blick zu. Nein, das konnte definitiv nicht Constantin sein. Der Typ war zwar noch recht jung, aber weder blass noch picklig. Der hatte eher Ähnlichkeiten mit Stefan aus ihrer Lieblingsserie Vampire Diaries. Schade eigentlich. Anna zog den Sicherheitsgurt zu und sah aus dem Fenster, auf das geschäftige Treiben um das Flugzeug herum, herab.
„Anna?“ Sie zuckte zusammen und drehte ihren Kopf zu „Stefan“.
„Du bist doch Anna, oder etwa nicht?“ „Stefan“ sah sie etwas verunsichert an. Anna starrt e in sein wirklich verdammt gutaussehendes Gesicht.
„Ähm ja, ähm klar, ich bin Anna ... und du bist ... Constantin?“ Anna kam sich vor wie der letzte Idiot.
„Ja, der bin ich. Hat dein Vater dir nicht gesagt, dass wir nebeneinander auf diesem Flug sitzen werden?“
„Ähm doch ... aber ... ich hatte mir dich ganz anders vorgestellt.“
Constantin sah sie überrascht an. „Wie denn?“
„Na ja, irgendwie ... strebiger.“ Anna merkte , wie sie rot wie ein Radieschen wurde.
„Strebiger? Ach so, du meinst , weil ich in Harvard studiere, müsste ich wie ein blasser, pickliger Streber aussehen?“ Jetzt lachte er schallend. Anna kam sich noch idiotischer vor und allmählich keimte Wut in ihr auf. Das war alles nur Domeniks Schuld. Warum hatte er auch so ein Theater um diesen Flug gemacht. Peinlich berührt, wandte sie ihren Blick ab und tat so, als ob sie etwas in ihrem Rucksack suchen würde.
„ Jetzt sei doch nicht verlegen. Ich war dir gegenüber auch im Vorteil. Ich hatte dich schließlich schon auf einem Foto gesehen.“
„Ach ja? Wann das denn?“ Anna unterbrach das Kramen in ihrem Rucksack.
„Alexander und meine Mutter haben sich ja beim Warten auf einen Flug nach Boston kennengelernt und sich dann scheinbar in 10.000 Meter Höhe ineinander verguckt. Auf jeden Fall hatte meine Mutter ihn schon im Schlepptau, als sie in Boston aus dem Flughafengebäude kam. Und die Woche, in der sie bei mir zu Besuch war, habe ich Alexander sicher drei Mal gesehen. Bei einer dieser Gelegenheiten hat er die Familienfotos rausgeholt.“
„Ach, da bist du allerdings echt im Vorteil. Ich weiß von euch so gut
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