Totgeschwiegen (Bellosguardo)
Gänsehaut.
Den restlichen Abend ließ sich Chloe nichts anmerken. Es war, als ob das Gespräch zwischen ihnen gar nicht stattgefunden hätte. Munter plauderte sie über das Menu der Party und diskutierte mit Domenik die Musikrichtung, die an den DJ weitergegeben werden sollte.
Anna war hingegen immer schweigsamer geworden.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“ Domenik sah sie besorgt an.
„Alles OK. Ich bin nur m üde“, antwortete sie lahm.
„Erzähl mir von deinem Vater, bitte.“ Anna sah Domenik aufmerksam an. Chloes Warnung von vorhin ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie musste einen Weg finden, mit Domenik zu sprechen und herausbekommen was wirklich mit ihm los war. Domenik und sie lagen nebeneinander im Bett und sahen durch die bodenlangen Sprossenfenster auf die Lichter der anderen Seite der Elbe hinaus.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein V ater war ein dominanter, sehr reicher Mann. Dementsprechend mussten alle nach seiner Pfeife tanzen. Und wehe irgendjemand widersetzte sich. Dann flippte er von null auf hundert aus. Als ich ein kleiner Junge war, hat er mir mal eine Ohrfeige verpasst, die so eine Wucht hatte, dass ich gegen den Türrahmen geflogen bin. Ich hatte ein üble Platzwunde am Kopf, die genäht werden musste.“
„Das ist ja furchtbar.“
„Seitdem hatte ich einen höllischen Respekt vor ihm und bin ihm aus dem Weg gegangen.“
„Das war sicher nicht leicht für deine Mutter. Ich finde sie wirklich sehr nett. “ Vorsichtig tastete sich Anna vor.
„ Die ist nicht immer nett, das kannst du mir glauben.“
„Aber ist sie wirklich eine Alkoholikerin?“
„Nein, das ist sie nicht.“
„Warum hast du mich das glauben lassen wollen?“
„Weil ich nicht wollte, dass sie mit deinem Vater spricht. Sie hätte ihm davon abgeraten, dass du mich besuchst.“
„Und warum?“
„Sie hätte ihn gewarnt.“
„Vor was gewarnt? “
„Ich hatte an meiner letzten Schule ziemliche Probleme.“
„Das hast du mir ja schon erzählt. Dein englisches Internat, wo du so schlecht in der Schule warst ...“
„Ich war nicht schlecht in der Schule, das war gelogen.“
„Was ist denn dann passiert?“
„Anna, wenn ich es dir erzähle, dann hasst du mich.“
„Wie könnte ich dich hassen, ich liebe dich doch.“ Anna sah ihn zärtlich an. Er sah so verletzlich aus.
„ Es hat etwas mit meinen Vater zu tun. Ich kann genau wie er, ziemlich wütend werden. Und so habe ich mich mit einem Jungen geprügelt.“
„Das ist nicht schön, aber warum sollte ich dich deswegen hassen?“
„Weil ich ihn krankenhausreif geschlagen habe.“
„Oh. Und dann bist du von der Schule geflogen?“
„Ja. Aber bitte, Anna, erzähl das niemandem. Auch nicht deiner Freundin Lara.“
„Das würde ich nie tun, du kannst mir vertrauen.“
„Das hoffe ich.“
„Aber nochmal, warum hätte de ine Mutter meinen Vater gewarnt? Du hast doch kein Mädchen verprügelt.“
„Sie hat Angst, dass ich so werde wie mein Vater. Die ganzen Sommerferien war ich in so einer Art Klap se für Reiche. Zuerst wollte sie mich gar nicht wieder auf ein Internat schicken. Aber für das letzte Schuljahr gab es keine andere Möglichkeit. Wenn ich in Hamburg bin, muss ich ständig zu so einem Psychoheini. In diesen Ferien hatte ich auch schon x Termine.“
„Und helfen diese Therapien?“
„Anna, ich bin nicht krank. Auch wenn meine Mutter das glaubt. Ich kann ziemlich wütend werden, das stimmt. Aber dieser Arsch in England hat mich auch dermaßen provoziert ...“
„Was ist denn damals passiert?“
Mit einem Mal versteinerten sich Domeniks Gesichtszüge.
„Der Typ war kurz davor , meine Freundin zu vergewaltigen.“
„Oh.“
„Ich konnte ihn gerade noch von ihr wegreißen“, sprach er stockend weiter. „Dann habe ich Rot gesehen. Ich konnte nicht aufhören, auf ihn einzuschlagen. Im nachhinein zählte für die Schule nicht, was der Typ gerade tun wollte, sondern nur, was ich getan hatte.“
„Aber deine Freundin? Die hätte das doch aufklären können.“
„Amanda stand unter Schock. Sie hat gar nichts dazu gesagt. Sie konnte sich angeblich an nichts mehr erinnern. Keiner hat mir geglaubt.“
Anna griff nach seiner Hand und drückte sie. Kein Wunder, dass er so schnell eifersüchtig wurde. Wahrscheinlich hatte er immer Angst , die Geschichte würde sich wiederholen. Er wollte sie nur beschützen, zugegeben auf eine übertrieben merkwürdige Weise. Chloe hielt ihren Sohn offensichtlich für
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