Totgeschwiegen
ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und setzte sich in ihr Auto. Der vertraute Geruch der Ledersitze ließ sie entspannter werden. Aber als sie jedoch die Tür zuziehen wollte, merkte sie, dass er sie festhielt.
Sie legte ihre ganze Verachtung für die dummen Machos von Stillwater in ihren Blick und fragte ungnädig: “Kann ich etwas für Sie tun?”
Er trat einen Schritt zurück, als hätte es ihn getroffen. Die Tür ließ er trotzdem nicht los.
“Ich wollte nur …”
“Vergiss es.”
“Aber …”
“Ich kenne dich doch. Ich mache euch keine Vorwürfe, dass du und deine Freunde euch so benehmt; ich weiß schon, woran ihr euch erinnert. Aber
ich
erinnere mich auch an alles Mögliche. Also hör endlich auf, den Ritter zu spielen, und glaub bloß nicht, dass ich auf dein falsches Lächeln hereinfalle!”
Danach starrte sie so lange auf seine Hand, bis er ihre Tür endlich losließ.
Kennedy sah zu, wie Grace ausparkte. Ganz offensichtlich war das nicht mehr das Mädchen, das alles tat, wenn sie nur ein bisschen Zuneigung dafür bekam, so wie damals auf der Schule. Gern hätte er sich eingeredet, dass sie ihn eben mit Joe oder Tim verwechselt hatte, aber er wusste, dass es nicht so war.
Er setzte sich hinters Steuer und erinnerte sich daran, wie Joe in der Schulmannschaft mächtig angegeben hatte, er könne Grace jederzeit und an jedem Ort zum Sex überreden. Um das zu beweisen, hatte er sie in den Umkleideraum in der Turnhalle mitgebracht.
Kennedy war nicht lange genug geblieben, um mitzuerleben, was dann passierte, aber er hatte gehört wie sich die anderen später das Maul darüber zerrissen. Und sogar er hatte gelacht, als Joe allen erklärte, er werde sich mit Grace zum Abschlussball verabreden, nur, um sie dann abblitzen zu lassen.
“
Ich
habe sie nie angerührt”, sagte Kennedy laut, um die peinigenden Erinnerungen loszuwerden. Aber auch wenn er sich nicht direkt beteiligt hatte – dazwischengegangen war er auch nicht. Er hatte daneben gestanden, wenn die Jungs sie schubsten oder ihr ein Bein stellten, und er hatte weggeschaut, wenn sie ihr beim Mittagessen einen Ohrenkneifer ins Essen legten. Er hatte nur eingegriffen, wenn Raelynn dabei gewesen war.
Raelynn … Ach, wie sehr er sie vermisste! Er kannte keine Frau wie sie. Sie war so wundervoll, einfach perfekt. Immer wieder hatte sie ihn angefleht, er solle seine Freunde doch davon abbringen, Grace zu ärgern, und sie einfach in Ruhe lassen. Aber sogar seine Mutter hatte immer nur abfällig von den Montgomerys gesprochen, und er hatte sich nicht davon frei machen können.
Heute tat ihm all das leid, aber es war zu spät. Er zog die Wagentür zu und ließ den Motor an. Meistens hatte er so getan, als würde Grace gar nicht existieren. Wenn er sich jetzt in Erinnerung rief, wie bittend sie ihn damals angeschaut hatte, wurde er sehr unruhig. Er war einfach nicht erwachsen genug, um zu bemerken, dass es seine Pflicht war, ihr in ihrer Not zu helfen. Vielleicht hatte er auch einfach nicht genügend darüber nachgedacht. Niemand hatte sich um sie gekümmert, nur ihre Familie. Als Molly auf die Highschool gekommen war, hatte sie eines Tages Grace mit Tim zusammen auf der Toilette entdeckt und es zu Hause ihrem älteren Bruder erzählt. Am nächsten Tag kam Clay in die Schule und brach Tim das Nasenbein.
Dank Clays Eingreifen waren die anderen Jungs verschreckt und hörten auf, Grace als Sexobjekt zu benutzen. Aber da war es längst schon zu spät. Und sie hörten nicht auf, sich weiter über sie lustig zu machen und sie auf andere Weise zu quälen.
Sein Handy klingelte. Kennedy war überrascht, als auf dem Display die Nummer seiner Mutter erschien. Sie wollte doch mit den Jungs zusammen schwimmen gehen. Wieso war sie schon wieder zu Hause?
Er meldete sich.
“Hast du schon gehört?”, fragte sie.
“Was gehört?”
“Grace Montgomery ist wieder in der Stadt.”
Stimmt genau.
Er rief sich das Gesicht der Frau ins Gedächtnis zurück, die ihm gerade ein falsches Lächeln attestiert hatte. Auch in der Schule war sie schon sehr hübsch. Sie war nicht wegen ihres Aussehens zur Außenseiterin geworden, sondern wegen ihres Verhaltens. Inzwischen sah sie noch viel besser aus. Ihre früher eher zu dichten Augenbrauen waren jetzt fein gezupft und ihre leicht schiefen Zähne gerichtet worden. Noch immer hatte sie diesen dunklen Teint, blaue Augen und schwarzes Haar. Diese Kombination war schon aufregend genug, aber ihre ausgeprägten Wangenknochen
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