Totgeschwiegen
offenbar nichts ausmachte, das Thema zu wechseln. “Er hat vorhin angerufen und angekündigt, er wolle mir etwas Wichtiges erzählen, was gestern in der Kneipe passiert ist.” Sie senkte bedeutungsvoll die Stimme. “Ich glaube, es hat was mit Dad zu tun.”
Grace stieß sich mit einem Fuß vom Boden ab, um der Hängematte Schwung zu geben. “Was soll das denn sein?”
“Weiß ich nicht. Er hatte keine Zeit, darüber zu sprechen. Aber es klang interessant.”
Nicht schon wieder. Arme Madeline.
“Maddy, du musst endlich damit abschließen, verstehst du? Es ist nicht gut, wenn man von einer Sache so besessen ist. Der …” Sie hätte beinahe gesagt “der Reverend”, besann sich dann aber eines Besseren und beendete den Satz: “… Daddy wird ganz bestimmt nicht mehr zurückkommen.”
Reverend Barker hatte von seinen Stiefkindern verlangt, dass sie ihn Dad nannten, und war immer sehr wütend geworden, wenn sie es nicht taten, besonders in Gegenwart von anderen Leuten. Nach seinem Verschwinden hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass es weiterhin dabei bleiben sollte, und ihnen verboten, das Büro im Schuppen auszuräumen.
“Bevor mein Dad deine Mutter kennenlernte, war er der einzige Mensch in meinem Leben”, stellte Madeline fest.
Ihre Mutter hatte Selbstmord begangen, und drei Jahre später hatte Lee Barker Irene Montgomery geheiratet. Grace hatte sich immer gefragt, warum seine erste Frau wohl so schrecklich unglücklich gewesen war. Wahrscheinlich hatte sie irgendwann die hässliche Fratze hinter der Maske der Frömmigkeit entdeckt. Niemand sprach jemals von ihr. Sogar Madeline tat so, als hätte es Eliza Barker niemals gegeben. Grace vermutete, dass Madeline ihr bis heute nicht vergeben hatte, dass sie sie ihrem Schicksal überlassen hatte.
“Ich weiß doch, wie viel er dir bedeutet hat, aber …”
“Ich muss das zu einem Abschluss bringen, Grace. Wenn ich Gewissheit habe, dass er tot ist, werde ich es akzeptieren, nicht wahr? Dann werde ich nicht mehr auf seine Rückkehr warten. Genauso wie bei meiner leiblichen Mutter. Das ist doch vernünftig, oder?”
“Glaubt Kirk denn, dass er tot ist?”
“Natürlich. Aber im Gegensatz zu den anderen Leuten hier in der Gegend macht er nicht unsere Mutter dafür verantwortlich.”
“Na ein Glück”, sagte Grace mit einem gekünstelten Lachen. “Es würde mir gar nicht gefallen, wenn er anderer Meinung wäre.”
“Das ist auch ein Grund, warum ich nicht aufhören kann, die Wahrheit zu suchen. Ich will den Leuten in dieser Stadt beweisen, dass sie genauso unschuldig ist wie du und ich. Sie waren so gemein zu ihr, und auch zu dir und Molly und Clay.”
Nach dem Verschwinden ihres Vaters waren ihre Stiefmutter und deren Kinder Grace, Clay und Molly die nächsten Bezugspersonen für Madeline. Natürlich hätte sie auch zu ihrem Onkel und ihrer Tante ziehen können, aber zu ihnen hatte sie nie ein besonders inniges Verhältnis gehabt. Nicht nur das: Es war vor allem ihre unerschütterliche Verbundenheit mit Irene, die sie von Joes Familie trennte.
Grace hielt sich das kühle Glas an die Wange und schloss die Augen. “Das ist nett, dass du das sagst, Maddy.”
Ihre Stiefschwester schwieg einen Moment lang, dann sagte sie: “Wir kommen dann so in einer Stunde zu dir rüber, okay?”
“Maddy?” Grace schlug die Augen auf und setzte das Glas ab.
“Was denn?”
“Wo wohnt Kennedy Archer eigentlich?”
“Im alten Haus der Baumgarters.”
Das Haus der Baumgarters war ein wunderschönes altes Haus im Südstaatenstil, ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Grace erinnerte sich sehr gut daran. Es war eines der schönsten Anwesen in der Gegend. Die Tochter des Hauses, Lacy Baumgarter, war in der Schule sehr beliebt und hatte bei sich zu Hause viele rauschende Feste gefeiert.
Zu denen Grace allerdings nie eingeladen worden war …
“Ein schönes Haus”, sagte sie und bemühte sich, so gleichgültig wie möglich zu klingen.
“Raelynn hat es wieder richtig auf Vordermann gebracht. Nachdem die Baumgarters ausgezogen waren, haben die Greens es gekauft, aber sie ließen sich scheiden. Ann hat versucht, das Haus zu halten, aber schließlich hat sie es an Kennedy und Raelynn verkauft. Die haben es dann renoviert.”
“Sehr schön.” Grace dachte an den Geländewagen, den sie heute Morgen von ihrem Fenster aus gesehen hatte, und war erleichtert. Vor der Pizzeria war ihr aufgefallen, dass Kennedy einen solchen Wagen fuhr, und hatte schon
Weitere Kostenlose Bücher