Totgeschwiegen
befürchtet, er hätte sie halb nackt am Fenster gesehen. Aber da er im alten Haus der Baumgarters wohnte, war es unwahrscheinlich, dass er so früh am Morgen in der Nähe ihres Hauses geparkt hatte.
“Warum fragst du?”, wollte Madeline wissen.
“Ich dachte, er wohnt vielleicht in der Stadt.”
“Du hast bestimmt gehört, dass er Bürgermeister werden will.”
“Ich habe die Plakate gesehen.” Sie waren ja nicht zu übersehen. Allerdings war Stadträtin Nibley eine nicht zu unterschätzende Konkurrentin.
“Die Zeitung unterstützt ihn. Wirst du bis zur Wahl hierbleiben? Dann könntest du auch deine Stimme abgeben.”
“Ich bin immer dabei, wenn es darum geht, dich und deine Zeitung zu unterstützen, Maddy. Aber für Kennedy würde ich nicht mal dann stimmen, wenn ich tatsächlich bis zur Wahl hier wäre und wählen dürfte.”
“Magst du ihn etwa nicht?”
Grace zögerte keine Sekunde: “Nein.”
“Wirklich? Warum denn nicht? Er ist sehr nett. Außerdem tut er mir leid.”
“Er stammt aus einer der mächtigsten Familien in Stillwater, er sieht gut aus, er ist gesund und reich. Was gibt es an ihm denn zu bemitleiden?”, fragte Grace bissig.
“Raelynns Tod hat ihn sehr mitgenommen. Ich habe noch nie gesehen, dass ein Mann bei einem Begräbnis so furchtbar geweint hat.”
Grace erinnerte sich, dass ihre Mutter Raelynns Autounfall erwähnt hatte. “Es tut mir leid wegen seiner Frau”, lenkte sie ein.
“Sie waren seit der Highschool zusammen.”
Grace war auf dieselbe Schule gegangen und konnte sich noch an sie erinnern. “Ich weiß. Sie war einer der nettesten Menschen, die ich je getroffen habe. Er hatte sie wirklich nicht verdient.”
Madeline schwieg verblüfft. “Was hast du denn ausgerechnet gegen Kennedy Archer?”
Abgesehen davon, dass er es nicht für nötig befunden hatte, sie zur Kenntnis zu nehmen – im Gegensatz zu seinen Freunden? Was war wohl schlimmer: Verhöhnt und beleidigt oder völlig ignoriert zu werden? Das Mitleid, das Kennedy in der Schule gelegentlich gezeigt hat, hatte sie mehr geschmerzt als alle Gemeinheiten von Joe oder Pete. Er hatte sie niemals angefasst, aber er hatte sich auch nicht für sie eingesetzt. Genau das hätte aber etwas bewirken können, denn Kennedy war der geborene Anführer. Er hatte eigene Ansichten und äußerte sie auch, und meistens folgten die anderen seinem Beispiel. Tatsächlich hatte sie ihn bewundert. Und ausgerechnet Raelynn hatte sich am meisten für sie eingesetzt. Nur Kennedy, der damals alles hätte ändern können, hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.
“Nichts Bestimmtes”, sagte sie. “Ich freu mich auf euch.”
“Und? Wie läuft’s mit dem Rasenmähen?”, fragte Kennedy seinen Sohn Teddy, als er rückwärts aus der Einfahrt seiner Eltern bog. Eigentlich hatte er nicht zum Abendessen bleiben wollen, aber sein Vater schien großen Wert darauf zu legen, und so hatte er sich doch noch umentschieden. Nach dem Essen hatten sie eine Weile über Politik gesprochen; um acht Uhr hatte er dann seine Jungs gerufen, die Reste vom Abendessen in Empfang genommen und war zu seinem Wagen gegangen.
“Er musste in der Ecke stehen”, teilte Heath ihm mit. Er war inzwischen zwar alt genug, um auf dem Beifahrersitz mitzufahren, aber Kennedy war es lieber, er saß weiter hinten. Es war einfach sicherer, und er wollte die größtmögliche Sicherheit für seine Kinder. Raelynn war auf dem Weg zum Friseur, als sie einem Wagen, der plötzlich vor ihr aufgetaucht war, ausweichen wollte und mit einem entgegenkommenden Sattelschlepper zusammenstieß. Einen solchen Aufprall konnte niemand überleben.
“Halt die Klappe, Heath”, rief Teddy. “Du musst Daddy doch nicht
alles
erzählen.”
Kennedy warf einen Blick in den Rückspiegel. Draußen wurde es schon dunkel, aber er konnte genau erkennen, dass Teddy ziemlich wütend dreinblickte. “Was ist denn passiert?”
“Nichts.”
“Was hast du gemacht?”, hakte Kennedy nach.
Heath deutete nach draußen. “Ich bin da hingegangen.” Sie fuhren gerade an Evonnes Haus vorbei.
Grace schien ihren kleinen BMW in die Garage gefahren zu haben, jedenfalls stand er nicht mehr vor dem Haus. Dort stand jetzt Kirk Vantassels Lieferwagen. Das Haus war hell erleuchtet. Wahrscheinlich hatte Grace gerade Besuch von ihrer Stiefschwester und deren Freund. Die beiden waren ja schon länger zusammen. “Worüber hat Oma sich denn aufgeregt?”
“Er soll nicht zur
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