Totgeschwiegen
schäbigen Farmhaus, zusammen mit seiner verwitweten Mutter und zehn Geschwistern. Er hatte keinen Highschool-Abschluss machen können, weil er an einer benachbarten Tankstelle hatte arbeiten müssen oder sich um den Hof kümmern. Es war ohnehin kein Geld da, um ihn auf die Universität zu schicken. Trotzdem war es ihm gelungen, Raymond Milton, einen erfolgreichen Fuhrunternehmer, davon zu überzeugen, dass etwas Besonderes in ihm steckte. Milton lieh ihm ein wenig Geld, und Otis Archer gründete im Alter von gerade mal fünfundzwanzig Jahren die Stillwater Kreditbank.
Mit dreißig hatte er bereits sein erste Million verdient und heiratete Miltons jüngste Tochter Camille. Mit vierzig wurde er Bürgermeister und erbte eine weitere Million von seinem verstorbenen Schwiegervater. Im gleichen Jahr wurde Kennedy geboren.
Otis Archer hatte ganz unten angefangen und sich zum wichtigsten Mann von Stillwater emporgearbeitet. Das war ein großes Vermächtnis.
Kennedy meldete sich nicht, als seine Sekretärin anklingelte. Nach dem Anruf vom Polizeichef, den er gerade erhalten hatte, war klar, dass es nur Joe sein konnte. Er wollte jetzt nicht mit ihm reden, und er musste gleich zu einem Auswärtstermin aufbrechen. Aber irgendetwas fesselte ihn am Porträt seines Großvaters. Obwohl die Stadt nicht so mondän und weltoffen war wie so viele andere, liebte Kennedy Stillwater. Er war überzeugt davon, dass er ein guter Bürgermeister sein würde. Im Grunde war ihm dieser Posten schon in die Wiege gelegt worden, und er fühlte sich wohl mit dem Weg, der vor ihm lag. Und doch brachte ihn der Gedanke, dass er womöglich bald schon ein Bild seines Vaters neben das des Großvaters aufhängen musste, aus dem Gleichgewicht. Ein weiterer Verlust nach dem Tod von Raelynn wäre einfach zu viel für ihn.
“Ich hab ihr gesagt, dass dein Wagen noch auf dem Parkplatz steht.”
Kennedy drehte sich um, als Joe Vincelli sein Büro betrat. “Was für eine Überraschung.”
Joe reagierte nicht auf den sarkastischen Unterton in Kennedys Stimme. “Warum hast du nicht reagiert, als Lilly durchgeklingelt hat?”
“Ich hatte zu tun.”
Joe hob zweifelnd die Augenbrauen; das war selbst für seine Verhältnisse eine flaue Entschuldigung. Doch weder Joe noch sonst jemand ahnte, dass Otis Archer an Krebs litt, und es sollte auch niemand erfahren. Die Bank würde wahrscheinlich in eine schwere Krise geraten, wenn bekannt wurde, dass ihr Vorsitzender unter Umständen an Weihnachten nicht mehr am Leben war. Außerdem fürchtete Kennedy sich vor all den Mitleidsbekundungen.
Ob sie den Zustand von Kennedys Vater noch geheim halten konnten, wenn er sich im kommenden Monat einer Chemotherapie unterzog, wussten sie nicht. Aber zum Wohle der Bank und ihrer Angestellten – und um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen, worauf Kennedys Mutter großen Wert legte – gaben sie sich alle Mühe.
“Was gibt’s denn?”, fragte er, obwohl er sowieso schon wusste, was Joe ihm gleich mitteilen würde.
“Ich will, dass McCormick den Fall meines verschwundenen Onkels wieder aufrollt.”
Kennedy sah Joe verwundert an. Warum, fragte er sich, wollte er, dass man sich wieder mit diesem alten Fall befasste? Nun gut, Lee Barker war ein Verwandter der Vincellis, aber Joe war erst dreizehn, als der Reverend verschwunden war, und er hatte bis heute kein besonderes Interesse an der Aufklärung dieses Falls an den Tag gelegt. “Chief McCormick hat mich vor ein paar Minuten angerufen.”
“Er kann den Fall nicht erneut bearbeiten, wenn es keine neuen Erkenntnisse gibt”, sagte Joe. “Aber ich weiß, dass du ihn dazu bringen kannst.”
“Warum sollte der Fall denn wieder aufgerollt werden?”, fragte Kennedy.
“Vielleicht finden wir ja diesmal etwas heraus.”
“Vielleicht aber auch nicht.”
“Ach komm schon, Kennedy, wir wissen doch alle, dass Clay oder Irene oder beide zusammen den Reverend auf dem Gewissen haben. Es wird Zeit, dass wir es endlich beweisen. Und überleg mal, was es für deinen Wahlkampf bedeutet, wenn wir Erfolg haben! Vicki Nibley würde keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen, wenn du herausfindest, was damals auf der Farm passiert ist.”
Kennedy ging zu seinem Schreibtisch und lehnte sich dagegen. Als sie zwölf gewesen waren, hatte Joes Vater sie zum Campen mitgenommen. Kennedy war auf einem glitschigen Stein ausgerutscht und in den Fluss gefallen. Es war sehr früh am Morgen, Joes Vater hatte noch geschlafen. Wäre Joe nicht
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