Totgeschwiegen
Irene. “Sie ist sehr stolz auf dich.”
Grace wusste, dass auch Madeline von ihren sexuellen Eskapaden gehört hatte und das Thema ignorierte. Vielleicht weigerte sie sich auch einfach, es zu glauben, genauso wie sie sich weigerte, die Gerüchte über ihre Familie und deren Schuld zur Kenntnis zu nehmen.
“Sie hat immer zu uns gehalten”, stellte Grace fest.
Ihre Mutter nahm einen Schluck Orangensaft. “Sie ist zwar nicht meine leibliche Tochter, aber ich habe sie immer als eine von uns betrachtet. Und auch sie fühlt sich mit uns sehr verbunden.”
Grace starrte ihre Mutter an. Sie wusste, dass sie es nicht sagen sollte, aber sie konnte sich einfach nicht beherrschen. Es machte sie einfach verrückt, dass Irene sich so wenig verantwortlich fühlte für das, was damals geschehen war. “Aber was ist, wenn sie herausfindet, was wirklich passiert ist?”
Irene sah sie gequält an. “Sie wird es nicht herausfinden.”
Wieder schob sie das Problem von sich fort.
“Sie ist drauf und dran.”
Irene schwieg.
“Wir sollten die Leiche verschwinden lassen”, brach es aus Grace hervor.
Irene schaute sie erstaunt an. Auch Grace konnte kaum glauben, was sie da eben gesagt hatte. Wenn sie übereilt handelten, könnte das alles nur noch schlimmer machen. Aber was konnten sie denn sonst tun? Alles einfach geschehen lassen? Zusehen, wie die Menschen, die sie liebte, in den Abgrund gezogen wurden? Wegen einer Tat, die sie nicht zu verantworten hatten?
Ihre Mutter wurde blass. “Grace, ich bitte dich, ich möchte nicht darüber sprechen.”
Grace senkte die Stimme. Jetzt, nachdem sie den Gedanken, der ihr die ganze Zeit im Kopf herumgespukt war, ausgesprochen hatte, wuchs in ihr die Überzeugung, dass sie genau das wirklich tun sollten. “Ich verstehe ja, dass das schwierig für dich ist, und ich will dich auch nicht beunruhigen. Aber ich bin der Meinung, dass wir die Leiche woandershin bringen sollten.”
“Hör auf damit!”, stieß Irene hervor und schaute sich dabei um, als fürchtete sie, belauscht zu werden. “Wir werden nichts dergleichen tun.”
“Gestern Abend war Joe Vincelli hier und hat gedroht, mit einem Bagger zur Farm zu fahren.”
“Warum sollte er so was tun? Es ist doch achtzehn Jahre her.”
“Weil er glaubt, wir hätten etwas zu verbergen.”
“Aber Lee ist schon so lange verschwunden. Gut, seine Familie redet nicht mit mir, sie grüßen mich nicht mal auf der Straße. Aber Joe Vincelli hat uns doch nie irgendwelche Scherereien gemacht. Warum sollte er jetzt damit anfangen?”
Grace ließ ihre Finger ganz langsam über das beschlagene Saftglas gleiten. “Weil er nicht mehr dreizehn ist. Und weil er rachsüchtig ist.”
Irene strich einige nicht vorhandene Falten auf ihrer Bluse glatt. “Die Polizei hat die Farm doch abgesucht und nichts gefunden. Joe wird auch keinen Erfolg haben.”
“Aber er ist ja nicht der Einzige, der in der Vergangenheit herumstochert. Auch Madeline will unbedingt die Wahrheit herausfinden. Und wenn sie ihre Verdächtigungen erst mal in der Zeitung abdruckt, kommt eine Lawine ins Rollen, die wir nicht mehr aufhalten können. Die Leute hier reden ja schon darüber, wer damals was wann gesehen hat. In einer größeren Stadt würde so ein Skandal mit der Zeit in Vergessenheit geraten, aber nicht in Stillwater. Nicht solange Joe und seine Angehörigen glauben, wir hätten uns des Mordes schuldig gemacht. Und wenn jetzt auch noch Madeline anfängt, Öl ins Feuer zu gießen, wird es erst recht unangenehm.”
“Es ist doch ganz normal, dass sie es herausfinden will.”
Grace packte ihre Mutter am Arm. “Mom, die Haie schwimmen schon seit Jahren um uns herum. Sie warten nur auf eine Gelegenheit, uns anzugreifen. Wir müssen die Leiche wegschaffen, solange es noch möglich ist. Sie irgendwo weit weg im Wald vergraben.”
Ihre Mutter hob das Saftglas, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nicht trinken konnte. Sie stellte es wieder ab und schüttelte heftig den Kopf. “Nein, nein! Das halte ich nicht aus.”
“Aber wir
müssen
etwas tun”, beharrte Grace. “Clay kann doch nicht für immer und ewig auf der Farm bleiben! Er hat es verdient, frei zu sein, zu heiraten, sein Leben zu leben. Wenn wir die Überreste los sind, gibt es nichts mehr, was uns mit dem Verschwinden des Reverends in Verbindung bringt. Aber sollte jemand die Leiche dort finden, wo sie jetzt ist …”
“Dann sei Gott uns gnädig”, flüsterte Irene.
“Amen.”
Ihre Mutter
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