Totgeschwiegen
Hause?”, rief er laut und klopfte erneut gegen die Tür.
Keine Antwort, obwohl der BMW in der Garage stand. Das hatte er gleich bemerkt, als er gekommen war.
Er spürte, wie er nervös wurde, und ging um das Haus herum, in der Hoffnung, eine offene Tür auf der Rückseite zu finden. Aber kaum hatte er das Gartentor geöffnet, hörte er die Stimme einer Frau und hielt inne.
War das Grace?
Er blieb hinter der Pappel stehen, deren Äste ihn gut verbargen, und spähte zwischen den Blättern hindurch.
Sie war es tatsächlich. Teddy war bei ihr. Sie saßen auf der Terrasse. Grace las ihm ein Buch vor.
“Warum, glaubst du, ist er in diese dunkle Höhle gegangen?”, fragte sie und deutete auf eine Illustration.
“Wahrscheinlich war er neugierig”, sagte Teddy.
“Du würdest das aber nicht tun, oder?”
“Nein, aber ich finde es gut, dass er es macht. Du nicht auch?”
Sie lachte. “So spricht ein mutiger Junge. Du liebst die Gefahr, hm?”
“Glaubst du, er wird sich wehtun?”
“Vielleicht verirrt er sich auch”, sagte sie. “Schauen wir mal nach.” Sie drehte die Seite um und las weiter. Sie trug ein T-Shirt und Shorts, keine Schuhe, und hatte die Füße unter ihrem Stuhl über Kreuz gelegt.
Kennedy konnte kaum fassen, was er da sah.
“Da ist es auch schon passiert.” Teddy holte tief Luft, als er sah, wie der Junge im Buch einen Abhang hinunterrutschte und in einem finsteren Loch landete. “Aber da wird ihm doch jemand heraushelfen, oder?”
“Vielleicht”, sagte sie. “Aber du darfst nicht darauf warten, dass andere dich retten. Du musst versuchen, dich selbst zu retten. Das solltest du dir merken.”
“Aber warum kann ich denn nicht auf die Hilfe anderer Leute warten?”
Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: “Manchmal können die anderen nicht hören, wenn du um Hilfe schreist.”
Kennedy hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie gar nicht mehr über die Geschichte im Buch sprach, sondern von eigenen Erfahrungen, die sie in ihrer Jugend gemacht hatte. Wahrscheinlich von dem, was sie auf der Highschool erlitten hatte. Jedenfalls stand fest, dass Teddy nicht in Gefahr war. Im Gegenteil, sein Sohn bekam hier ein wenig von der Nähe und Zuneigung, die er seit dem Tod seiner Mutter so schmerzlich vermisste.
Kennedy brachte es nicht übers Herz, die beiden zu stören. Er zog sich zurück, schloss das Gartentor mit einem leisen Klicken und eilte davon.
Im Auto rief er seine Mutter zurück und sagte: “Teddy geht es gut. Du musst dir keine Sorgen machen.”
“Kommt er jetzt nach Hause?”
Er bog auf die Hauptstraße ein. “Ja, aber nicht gleich.”
“Warum denn nicht?”
“Er hat zu tun.”
“Ist er etwa immer noch bei
ihr?”
Kennedy wollte die Szene trauten Zusammenseins nicht beschreiben, die er gerade beobachtet hatte. Er war zutiefst dankbar, dass Grace so lieb zu Teddy war, obwohl sie
ihn
nicht leiden konnte. “Er fegt ihre Garage”, log er, weil er glaubte, dass seine praktisch veranlagte Mutter mit einer solchen Antwort etwas anfangen konnte.
Leider hatte er ihre Abneigung gegen Grace unterschätzt.
“Sie lässt ihn den ganzen Tag lang schuften? Findest du es etwa gut, dass sie den Jungen ausbeutet?”
“Das tut sie überhaupt nicht”, rief er aus. “Ich hab das alles geregelt, hörst du!”
Nach diesem Ausbruch schwieg seine Mutter erstaunt, während er sich bemühte, seine Gefühle im Zaum zu halten. Es mochte ja sein, dass seine Mutter ihm dann und wann auf die Nerven ging, aber sie tat es nur in guter Absicht und weil sie für ihn und seine Söhne nur das Beste wollte. Außerdem belastete ihre Situation sie natürlich auch, manchmal vielleicht sogar zu viel. Er hatte oft schon überlegt, ob er ein Kindermädchen für seine Söhne einstellen sollte, aber damit wäre ihnen wahrscheinlich auch nicht geholfen. Seine Jungs sehnten sich nach ihrer verlorenen Mutter, nicht nach einem Aufpasser. Seine Mutter wiederum wäre sicherlich sehr pikiert, wenn er ihr auf diese Weise zu verstehen gäbe, dass er sie nicht für stark genug hielt, mit den beiden fertig zu werden.
“Ich bin dort gewesen”, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. “Es ist alles in bester Ordnung. Er kommt nach Hause, wenn er so weit ist.”
“Du hättest ihm sagen sollen, dass er sofort gehen muss.”
“Wieso? Willst du ihm etwas vorlesen?”
“Wie bitte?”
“Ach, vergiss es”, sagte er und legte auf.
6. KAPITEL
A us der geöffneten Tür der Billardhalle neben Jeds Autowerkstatt
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