Totgeschwiegen
drang Countrymusic. Grace lehnte sich gegen die Mauer. Wenn sie sich nur einen Schritt weiter wagte, könnte sie etwa die Hälfte der männlichen Bevölkerung von Stillwater beim Dart, Billard oder Biertrinken beobachten. Aber von dieser Stelle aus war die Rückseite der Werkstatt am besten zu erreichen. Sie lag nicht weit von Evonnes Haus entfernt an der Kreuzung, die das Geschäftszentrum des Ortes darstellte. Sich durch den Vordereingang Zugang zu verschaffen, war praktisch unmöglich; man würde sie sofort bemerken. Nebenan lag das Grundstück von Walt Eastmans Reifenservice, das von einem großen Wachhund bewacht wurde.
Grace trug ein schwarzes T-Shirt und Jogging-Shorts und hatte ihre langen Haare unter eine Baseballmütze gesteckt. Neben ihr kauerte Madeline auf dem Boden und beschäftigte sich mit ihrem Rucksack. Sie war genauso angezogen.
“Ich will nur hoffen, dass Jed nicht auch einen Hund hat”, flüsterte Grace ihr zu.
Madeline schüttelte den Kopf. “Nein, Walt ist der Einzige mit einem Wachhund. Und für den habe ich dieses saftige Steak eingepackt.”
“Na prima, dann müssen wir uns ja über nichts weiter Sorgen machen, außer dass wir erwischt werden könnten und im Gefängnis landen.”
Madeline hob den Bolzenschneider hoch, den sie aus dem Rucksack geholt hatte. “Niemand wird im Gefängnis landen. Du hast doch den Polizeifunk gehört. Die sitzen gemütlich bei Kaffee und Donuts zusammen wie immer.”
“Leider kriegen wir jetzt nicht mit, was sie als Nächstes tun werden.”
“Willst du das Funkgerät vielleicht mit dir herumschleppen?”
“Nein, danke.” Wichtiger als der Polizeifunk war für Grace, dass sie nicht zu viel bei sich trug – damit sie, wenn es nötig sein sollte, schnell wegrennen konnte.
“Na, siehst du.”
“Und wie geht’s nun weiter?”
Madeline zog den Reißverschluss ihres Rucksacks zu und stand auf. “Kirk hat alles ausgekundschaftet. Im hinteren Teil des Zauns gibt es ein Tor, das mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Wir schneiden ganz einfach die Kette durch, gehen rein und schauen uns um. Das kann ja nicht so schwer sein.”
“Kirk hat dir also Tipps gegeben, wie man einbricht, hm?”
“Weil er ja nicht mitkommen konnte.”
“Warum warten wir nicht, bis er wieder zurück ist, wenn er sich so gut auskennt?”, fragte Grace, immer noch in der Hoffnung, die ganze unangenehme Sache verschieben zu können. Wenn sie doch nur genug Zeit hätte, um Clay dazu zu bringen, die sterblichen Überreste von Lee Barker fortzuschaffen,
bevor
Madeline noch mehr Aufmerksamkeit auf den Fall lenkte!
“Wir können nicht warten, weil wir sonst Gefahr laufen, dass der Inhalt des Aktenschranks verschwindet.”
“Das kann doch schon längst passiert sein.”
“Je früher wir uns darum kümmern, desto größer ist die Chance, dass das, was wir suchen, noch da ist.” Madeline setzte den Rucksack auf. “Außerdem wissen wir überhaupt nicht, wann Kirk zurückkommt. Womöglich muss seine Mutter tage- oder wochenlang im Krankenhaus bleiben.”
Als Grace noch immer nicht überzeugt war, warf Madeline ihr einen finsteren Blick zu: “Ich weiß gar nicht, was du hast. Wir wollen doch nichts stehlen. Mach dir keine Sorgen. Das ist doch ganz harmlos.”
Es war ü
berhaupt nicht
harmlos. Grace’ Puls raste. Sie fand es ganz und gar nicht beruhigend, dass Kennedy Archers Wagen vor der Billardhalle stand. Bestimmt war er mit seinen Freunden da drinnen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was hier los sein würde, wenn man sie erwischte …
Als Madeline sie überredet hatte, war Grace nicht klar, dass diese verrückte Aktion in unmittelbarer Nachbarschaft der Billardhalle stattfinden sollte, quasi unter den Augen der Machos von Stillwater. Ausgerechnet heute, am Donnerstag, wurden dort Margaritas zum Preis von nur einem Dollar angeboten, weshalb besonders viele Gäste anwesend waren. Grace hatte nur an ihre Stiefschwester gedacht. Madeline war allein losgegangen, nachdem sie ihr abgesagt hatte, woraufhin Grace sich genötigt sah, sie zu begleiten. Sie konnte doch nicht zu Hause herumsitzen und Däumchen drehen, während ihre Schwester in eine Autowerkstatt einbrach! Grace fühlte sich ebenso schuldig wie verantwortlich – zumal sie alle Antworten kannte, die Madeline so verzweifelt suchte.
“Ich bin Staatsanwältin”, flüsterte sie und atmete tief durch. “Ich kann doch nicht einfach irgendwo einbrechen. Normalerweise klage ich Leute an, die so etwas
Weitere Kostenlose Bücher