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Totgeschwiegen

Totgeschwiegen

Titel: Totgeschwiegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brenda Novak
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glauben. Aber sie wusste auch, dass sie nicht besonders überzeugend gewesen war.
    Kennedy ging draußen unruhig hin und her. “Oh Gott”, hörte sie ihn vor sich hin sagen. “Wenn dieser Dreckskerl nicht schon tot wäre, würde ich ihn eigenhändig umbringen.”
    Kennedy lag noch lange wach, nachdem Grace aufgehört hatte, sich herumzuwälzen. Er nahm an, dass sie schließlich doch noch eingeschlafen war. Er hoffte es, denn sie musste sich unbedingt ausruhen. Aber er selbst kam nicht zur Ruhe. Immer wieder sah er das vom fahlen Mondlicht angestrahlte blasse Gesicht von Grace vor sich und ihre Panik, als er sie danach gefragt hatte, ob ihr Stiefvater sie missbraucht hatte. Er hatte die Wahrheit erfahren. Sie hatte gar nichts zugeben müssen, der Schrecken stand ihr im Gesicht geschrieben. Blieb nur noch die Frage, wie weit der perverse Reverend mit ihr gegangen war. Hatte er sie vergewaltigt? Wenn ja, wie alt war sie damals? War es nur einmal passiert? Zweimal? Öfter?
    Wenn er sich ausmalte, wie dieser Mann seine hilflose kleine Stieftochter zu so etwas gezwungen hatte, kroch in ihm eine kalte Wut hoch, die er kaum im Zaum halten konnte.
    Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, als könnte er so die Bilder vertreiben, die seine Fantasie ihm vorgaukelte. Er spürte, wie ein Gefühl des Ekels ihn packte. Es war einfach furchtbar, sich vorzustellen, wie die hilflose junge Grace, dieses unschuldige Mädchen, von diesem verantwortungslosen Mann zu einer schuldbeladenen und unglücklichen Frau gemacht wurde. Und auf einmal erklärte sich so vieles in ihrem Benehmen …
    Er verstand jetzt, warum Grace sich in der Schule in sexueller Hinsicht so merkwürdig benommen hatte. Das war ja ein typisches Verhalten bei Menschen, die als Kind missbraucht worden waren. Er verstand auch, warum sie so zwanghaft um Aufmerksamkeit gebettelt hatte. Ihre Probleme waren übermächtig, und sie hatte sich nach Liebe und Geborgenheit gesehnt. Auch wenn der Reverend schon verschwunden war, als Grace auf die Highschool kam, lastete das furchtbare Geheimnis noch immer auf ihr, schwerer vielleicht sogar, weil sie älter geworden war. Und auch sonst war es für sie schwer, denn ihre Familie wurde abgelehnt. Ihre Mutter hatte keine besonders gute Ausbildung und musste für wenig Geld sehr viel arbeiten. Die Montgomerys wurden argwöhnisch betrachtet und waren das Opfer schlechter Scherze und böser Bemerkungen; angeblich waren sie “asozial”.
    Die schöne Frau, die er eben noch unten im See in seinen Armen gehalten hatte, war alles andere als das. Wenn er an die Anspielungen und höhnischen Bemerkungen dachte, die seine Freunde in Bezug auf Grace gemacht hatten, und wenn er sich dann vorstellte wie sie ihn einst bewundert hatte, damals, als er es versäumt hatte, sich für sie einzusetzen, dann fühlte er eine schwere Schuld, die ihm beinahe körperliche Schmerzen verursachte.
    “Warum?”, murmelte er vor sich hin. Warum hatte er sich damals nicht überwunden und ihr etwas Mitgefühl geschenkt? Warum hatte er nicht versucht, die anderen abzuhalten?
    Offenbar war er auch nicht besser als Joe und die anderen. Er hatte nichts getan. Und sie hatte es trotzdem geschafft. Sie hatte ihren Highschool-Abschluss gemacht, sie war aufs College gegangen und schließlich sogar auf die Universität, um Jura zu studieren. Sie war Staatsanwältin geworden. Eine richtig gute.
    Das war beeindruckend. Das, was sie erreicht hatte, nachdem sie Stillwater verlassen hatte, war
mehr
als beeindruckend. Aber die Narben von früher waren immer noch da. Das wusste er jetzt.
    Ihm fiel ein, dass eines Tages Grace’ Bruder Clay in der Schule erschienen war, um Tim zu verprügeln. Clay war auch schon als Jugendlicher unglaublich stark. Er konnte Gewichte von über hundert Kilogramm stemmen. In der Turnhalle hing immer noch eine Plakette, auf der sein Name stand, weil er zu den Besten gehört hatte. Kennedy hatte es im Gewichtheben nie so weit gebracht wie Clay.
    Hatten Clay und seine Mutter herausgefunden, dass der Reverend seine Stieftochter missbrauchte, und ihn in einem Wutanfall umgebracht? Oder hatten sie vorher einen Plan geschmiedet, wie sie ihn loswerden könnten, damit er nicht noch mehr Unheil anrichten konnte? Es war auch möglich, dass die kleine Grace selbst sich gewehrt hatte, um sich von ihrem Stiefvater zu befreien, und dass die Familie jetzt zusammenhielt, um sie zu schützen.
    Was auch immer geschehen war: Für Kennedy war jetzt klar,

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