Totgeschwiegen
dass die Geschichte, die sie immer wieder vom Verschwinden des Reverends erzählt hatten, nicht stimmte. Bevor er die Bibel gefunden und Lee Barkers Eintragungen gelesen hatte, hatte er noch geglaubt, was die Montgomerys bislang behauptet hatten. Angeblich war der Reverend aus unerklärlichen Gründen ganz plötzlich verschwunden. Das konnte Kennedy inzwischen nicht mehr akzeptieren. Ihm war nun klar, dass die Montgomerys tatsächlich an dem Verschwinden ihres Familienoberhauptes schuld waren, so wie alle im Ort es vermuteten.
Aber nach allem, was der Reverend getan hatte, war es schwierig, ein Urteil über sie zu fällen.
Die Sonne brannte auf Grace’ Zelt. Sie drehte sich um, immer noch schläfrig, aber es war jetzt so heiß, dass sie es kaum noch aushielt. Es war noch recht früh am Tag, etwa halb neun. Kennedy und die Jungs waren schon auf. Sie hörte sie reden und roch schon den gebratenen Speck.
“Jetzt weiß sie doch, dass du ein netter Mensch bist, hab ich recht, Dad?”, fragte Teddy.
“Lass uns lieber später darüber sprechen”, antwortete Kennedy leise.
“Ich glaube, sie kann dich ganz gut leiden.”
Kennedy räusperte sich. “Das reicht jetzt, Teddy.”
“Okay, aber du magst sie doch auch, stimmt’s? Sie ist doch hübsch, oder, Dad?”
“Sogar sehr hübsch.”
Grace stöhnte auf, als ihr die Ereignisse der letzten Nacht wieder in den Sinn kamen. Sie hatte Kennedy geküsst und ihm Sex angeboten. Das war mehr als peinlich, aber sie wusste, dass sie es wieder tun würde, wenn es half, ihr Verhältnis zueinander zu klären. Gelang ihr das nicht, würde es nur noch schlimmere Probleme geben. Sie erinnerte sich an Kennedys Gesichtsausdruck, als sie ihn über das Verhältnis zu ihrem Stiefvater angelogen hatte.
Warum ist sie nicht stärker gewesen?
Sie rollte zur Seite und bemerkte ihr Handy. Bis zu diesem Moment hatte sie überhaupt nicht an George gedacht. Aber sie hatte ihn ja ohnehin schon verloren. Ihr ganzes Leben hatte sich in nur einer Nacht völlig verändert.
“Sie ist
wirklich
sehr hübsch”, meldete Heath sich zu Wort.
“Jetzt nimm mal die Pfanne mit dem Rührei und bring sie her”, befahl Kennedy.
Grace schälte sich aus dem Schlafsack. Sie würde Kennedy gegenübertreten müssen, das stand fest. Also war es besser, sie brachte es gleich hinter sich. Vielleicht konnten sie ihre Begegnung am See ja einfach vergessen, ungeschehen machen, so tun, als wäre nichts passiert. Und dann ihrer Wege gehen.
Aber sie konnte und wollte nicht vergessen, was sie in diesem Moment empfunden hatte.
“Ich bekomme das nie in den Griff”, murmelte sie.
“Ich glaube, sie ist aufgewacht”, rief Teddy erfreut aus, und beim Klang seiner Stimme musste sie trotz allem lächeln.
“Warte, Teddy”, mahnte Kennedy. “Sie muss sich doch erst mal anziehen.”
“Ich wollte ihr doch nur guten Morgen sagen”, nörgelte Teddy.
Grace zog sich ein T-Shirt über, griff nach ihrer Waschtasche, zog die Flip-Flops an und kroch aus dem Zelt. Ihre Frisur musste schrecklich aussehen; sie war mit nassen Haaren schlafen gegangen. Aber Kennedy schien es nicht zu bemerken. Er wandte sich zu ihr um, als er sie hörte. Sie sahen einander an. Irgendetwas Unsichtbares spielte sich zwischen ihnen ab. Sie fühlte sich stark und selbstbewusst in seiner Gegenwart. Das war merkwürdig – nach allem, was letzte Nacht geschehen war.
Sie erinnerte sich daran, wie sie sich an ihn geschmiegt hatte. Gott sei Dank hatten sie etwas angehabt, sonst hätte es ganz anders enden können.
“Morgen”, sagte er und reichte ihr einen Teller mit gebratenem Speck.
Sie murmelte eine Antwort, aß ein Stück vom salzigen Speck und tat so, als würde sie sich für nichts anderes interessieren. Dabei war ihr mit einem Mal klar geworden, dass dieser Mann mehr über sie wusste als alle anderen Menschen, abgesehen von ihrer Familie.
“Die Pfannkuchen sind in ein paar Minuten fertig”, sagte er.
“Riecht gut”, entgegnete sie nervös. “Habe ich noch genug Zeit zum Duschen?”
“Klar.”
“Ich bring dich hin”, sagte Heath.
Grace nahm den Jungen an der Hand.
“Ich komme auch mit”, sagte Teddy und bestand darauf, ihre Tasche zu tragen.
Das Geräusch eines Motors lenkte Grace ab. Sie wandte sich um; sicher waren das andere Camper, die kamen oder gingen. Aber es war ein wenig anders.
Sie bekamen Gesellschaft.
“Oh nein”, sagte sie, als sie den Fahrer erkannte.
“Was ist denn los?”, fragte Teddy.
Joe Vincelli
Weitere Kostenlose Bücher