Totgeschwiegen
wollte hineinschlüpfen. Kennedy fasste sie am Arm und hielt sie zurück.
“Grace?”, flüsterte er kaum hörbar.
Sie schaute auf und bemerkte sein ernstes Gesicht.
“Weißt du, was Reverend Barker in seine Bibel hineingeschrieben hat?”
“Hineingeschrieben?”, wiederholte sie verwirrt.
“Hast du jemals gelesen, was er da notiert hat?”
“Nein. Was hat er denn hineingeschrieben?”
“Vor allem sehr viele Bemerkungen über dich.”
Sie wagte kaum noch zu atmen.
“Ich habe es gelesen und mir Gedanken darüber gemacht, ob …”
Sie ahnte, dass jetzt etwas Furchtbares kommen musste, ihr Herz raste. “Was denn?”, stieß sie hervor.
“Ob dein Stiefvater dich …”
Alles in ihr verknotete sich. Ihr Bauch schmerzte. “Ich möchte nicht über ihn sprechen”, sagte sie.
Er fasste nach ihren Händen und drückte sie, um ihr zu signalisieren, dass er ihr nichts Böses wollte. “Ist er dir … du weißt schon, zu nahe gekommen, als du noch ein junges Mädchen warst? Hat er dich berührt, wo und wie er es nicht hätte tun dürfen?”
Grace glaubte, ersticken zu müssen. Alles an ihr schien gelähmt. Sie konnte nicht einmal mehr atmen. Einen kurzen Moment lang wollte sie es zugeben, um endlich ihren Schmerz und ihre Wut jemandem enthüllen zu können, um die schwere Last dieses schmutzigen Geheimnisses loszuwerden, eines Geheimnisses, dass sie noch nicht einmal ihrer Therapeutin hatte anvertrauen können.
Aber sie konnte sich nicht über ihr Schuldgefühl hinwegsetzen. War sie nicht selbst für das verantwortlich, was ihr Stiefvater mit ihr gemacht hatte? Wie sie auch für das verantwortlich war, was sie mit Kennedys Freunden in der Schule getrieben hatte? Ihre eigene Schande wog mindestens genau so schwer wie der schlimme Verrat ihres Stiefvaters, der seine Machtposition ausgenutzt hatte. Außerdem durfte sie niemandem gegenüber zugeben, dass sie und ihre Familie ein wirklich gutes Motiv gehabt hatten, den Reverend von Stillwater umzubringen. Schon gar nicht Kennedy gegenüber, denn der besaß ja sogar die Bibel. Bestimmt würde er sie eines Tages gegen sie verwenden. Alle seine Freunde und seine Familie waren gegen sie. Da konnte es sehr schnell passieren, dass er in einem schwachen Moment sie und ihre ganze Familie auslieferte.
“Nein.” Sie versuchte, ihn dabei anzusehen, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte Angst, dass er ihr die Lüge ansah, genauso wie vorhin, als sie zusammen im Wasser gewesen waren.
Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er hielt sie fest. “Ich glaube, er hat es getan”, sagte er hartnäckig.
Er bedrängte sie, die Wahrheit zu sagen. Sie musste überzeugender sein. “Spinnst du?” Sie zwang sich zu einem höhnischen Unterton. “In dieser Stadt gibt es eine Menge Leute, die dich für verrückt erklären würden, wenn du so etwas behauptest. Der Reverend, er war unantastbar … Das weißt du doch selbst, oder?”
Sein Gesichtsausdruck änderte sich kaum, als er auf sie herabsah und nachdenklich sagte: “Ich bin mir da nicht so sicher. Sag du es mir.”
Er konnte jeden ihrer Gedanken lesen, jede winzige Änderung in ihrem Gesicht deuten. Sie brauchte mehr Abstand zu ihm. “Er … aber natürlich … jeder wusste doch, was für ein … guter Mann er war. Er …” Die Worte schienen in ihrer Kehle stecken zu bleiben. Sie wollte ihren Stiefvater weiter loben, als guten Menschen beschreiben, aber es ging nicht. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht gegenüber Kennedy.
“War er ein guter Mensch?” Kennedy flüsterte nur.
Sie versuchte, sich zusammenzureißen, wieder zu Atem zu kommen. Aber in dieser Nacht war einfach zu viel geschehen. Ihre Gefühle rasten im Kreis wie ein entfesseltes Karussell. Sie spürte Schmerz. Und Wut. Enttäuschung. Erregung. Hoffnung. Kennedy schien der Anker zu sein, den sie so lange gesucht hatte, aber sie wusste, dass das nur eine Illusion war. Wenn sie nach ihm griff, um sich zu retten, würde sie ins Nichts fassen, ganz bestimmt. Denn er war Mr. Stillwater, und sie war nur die willige Gracie.
“Hat er dich missbraucht, Grace?”
Sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. “Nein. Hör auf! Ich kann nicht … Ich … hör auf, ich bitte dich!” Endlich gelang es ihr, sich loszureißen und unter die schützende Plane ihres Zeltes zu schlüpfen. Dort blieb sie hocken, versuchte, die Tränen zurückzuhalten und ruhig zu atmen. Sie wartete auf das, was Kennedy als Nächstes tun würde. Sie hoffte inständig, er würde ihr
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