Totsein ist Talentsache (German Edition)
anmerken zu lassen. Die Tarnung ist jedoch
nicht so gut wie gedacht. Erstens ist es schon verdächtig, wenn einem Menschen
das halbe Gesicht fehlt, während von der anderen, nicht minder abstoßenden
Hälfte eine zerfetzte Latexmaske herabhängt. Zweitens ist es unter den Lebenden
nicht üblich, ihre Mitmenschen aufzufressen. Nicht in diesem Teil der
Milchstraße zumindest. Drittens würde sich kein seiner fünf Sinne mächtiger
Mensch länger als zwingend notwendig damit abfinden, dass er über und über mit
Blut besudelt ist.
Den fauligen Gestank, der wie eine Wolke über dem
Geschehen hängt, kann man im Vergleich dazu schon fast als diskret bezeichnen.
Es riecht nach Verfall und Verderben. Nach vor langer Zeit eingesetzter
Verwesung. Dass diese Kreaturen allesamt gekleidet sind, als kämen sie gerade
von einem Abendessen im Sacher, lenkt nur wenig von den eindeutigen
körperlichen Mängeln ab.
Bernd zieht seinen Kopf zurück ins beruhigende
Halbdunkel des Kellergewölbes, atmet tief durch und deutet Anna, hinter ihm
bleiben. Dann hebt er die Tür ein wenig weiter an und wagt einen genaueren
Blick auf das Gemetzel. Die meisten der Opfer dürften tatsächlich schon tot
sein, denn außer dem grausigen Schmatzen dieser Monster sind nur hier und da
noch schwache Hilferufe zu vernehmen. Bernd fasst allen Mut zusammen und wagt
sich bis zum Hosenbund an die Oberfläche. Um sich einen Überblick über die
Ausmaße des Käfigs zu verschaffen, lässt er seinen Blick rundum schweifen.
Wegen der spärlichen Beleuchtung kann er jedoch nur erahnen, wie riesig dieses
groteske Freiluft-Buffet tatsächlich ist. Es scheint fast den ganzen Innenhof
einzunehmen. Und es passen sehr viele Leichen hinein. Solche, die ihrem
Schicksal gehorchend daliegen und solche, die das mit dem ewigen Leben etwas zu
wörtlich nehmen.
Beinahe jeder der Untoten ist damit beschäftigt, an
einem leblosen Rumpf zu nagen und ihm große Stücke blutenden Fleisches zu
entreißen. An einigen Leibern kauen bis zu vier dieser Kreaturen herum. Ein
paar wenige wanken im fahlen Mondlicht umher. Sie geben ein seelenloses Stöhnen
von sich, wenn sie einen noch nicht vollständig abgenagten Knochen finden.
Nur zwei verhalten sich anders. Sie stolpern zwar
auch vor sich hin und beugen ihre verdreckten Körper über den einen oder
anderen Leichnam. Aber, und das ist selbst für sehr tolerante Beobachter
verdächtig, sie halten einander an den Händen. Und der Kleinere der beiden
sieht immer wieder zu seinem Begleiter hoch, wie um sich zu vergewissern, dass
er noch da ist. Als hätte er Angst, ihn zu verlieren. Als wäre er sein
Beschützer. Seine Lebensversicherung. Seine … „Katja? Scheiße, wie …?“
Großer Fehler. Mächtig großer Fehler. Wenn man von
hungrigen Untoten umgeben ist, mache man weder durch lautes Rufen noch durch
heftiges Winken auf sich aufmerksam. Regel Nummer eins. Regel Nummer zwei: Man
schließe die Tür, wenn man eine zur Verfügung hat. Von der anderen Seite. Regel
Nummer drei: Wenn man Regel Nummer eins und zwei aus Dummheit, Unwissenheit
oder Arroganz ignoriert hat, sollte man wenigstens versuchen, in Würde zu
sterben.
Untote mögen ja durchaus bar jeder Seele sein. Durch
Schnelligkeit und Eleganz zeichnen sie sich auch nicht aus. Aber Kraft haben
sie. Das muss man ihnen schon lassen. Mit einem einzigen Ruck zieht einer von
ihnen Bernd aus der Luke, lässt ihn daneben auf den Boden fallen und stürzt
sich auf ihn.
Aus der Nähe betrachtet sind sie noch hässlicher. Und
sie stinken wirklich ganz erbärmlich. Das verwesende Fleisch hat große Löcher
ins Gesicht gerissen und an den Händen genießen Sehnen und Knochen die
Nachtluft. Bernd windet sich panisch, um seinem Peiniger zu entkommen.
Blindlings schlägt er um sich und tritt mit seinen langen Beinen nach den auf
ihn zu stolpernden Untoten. Wenn man von ihnen umzingelt ist, wirken sie viel
agiler, als wenn man aus einem halbwegs sicheren Versteck zusieht.
Gierig nähert sich die Fratze, während zwei weitere
dieser wandelnden Leichen sich auf Bernds Bauch werfen. Bernd denkt an Anna. An
all die Dinge, die er mit ihr erleben wollte. Und dass dieses Abenteuer
eindeutig nicht dazuzählt. Der faulige Gestank aus dem Rachen der Kreatur über
ihm raubt ihm beinahe den Verstand und vollständig den Atem. Tod durch
Ersticken. Immer noch besser als von jemandem gefressen zu werden, der
verblüffende Ähnlichkeit mit der Unterrichtsministerin hat. Bernd ergibt sich
seinem
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