Totsein ist Talentsache (German Edition)
Lederjacke, die ausgetretenen Schuhe und den
Siegelring am kleinen Finger würde Anna jedoch überall erkennen. Aber wie käme
der überschätzte Kollege hierher? Krankenhaus-Geschichten macht er nicht. So
etwas ist ihm zu banal. Außerdem hat er zuletzt an der Reportage über ihren
Vater gearbeitet. Und der sitzt jetzt gerade wahrscheinlich ganz bequem
irgendwo herum und lässt sich ein paar Infusionen durch den Kopf gehen. Oder
einen mittelmäßigen Journalisten durch den Magen.
Das menschliche
Gehirn ist etwas Wunderbares. Es klinkt sich einfach aus, wenn es mit einer
Situation nicht fertig wird. Das tun Anna und ihr Hirn jetzt auch. Denn mit der
Tatsache, dass ihr Vater nicht schwer krank, sondern untot ist und vor ihren
Augen einen ehemaligen Kollegen auffrisst, werden nämlich beide beim besten
Willen nicht fertig.
Jo kann Anna gerade noch rechtzeitig auffangen, als
sie nach hinten kippt und durch die offene Luke zu stürzen droht. Gemeinsam mit
Bernd trägt er sie nach unten, während Katja eilig die Tür schließt und den
Riegel vorschiebt. Im letzten Augenblick, denn die Kreaturen haben das
reichhaltige Buffet endgültig abgegrast und wollen die frischen Häppchen nicht
entkommen lassen. Nur knapp entgehen die vier Freunde einem Schicksal schlimmer
als der Untod.
„Scheiße, warum stinkt ihr so?“, fragt Bernd, während
er Anna vorsichtig auf die unterste Stufe setzt. „Innereien und
Untoten-Schleim. Von der Klara Zehner. Ich möchte hier festhalten, dass ich ja
gesagt hab, dass mit der was nicht stimmt! Na egal, die anderen haben sie
jedenfalls beim Reinkommen niedergetrampelt. Dabei ist sie irgendwie
aufgeplatzt. Und wir haben uns halt auf ihr rumgewälzt. Wir haben uns gedacht,
wenn wir aussehen und riechen wie die, dann fallen wir vielleicht aus dem
Beuteschema. Also, Katja hat das gedacht.“ Jo deutet auf Katja und schenkt ihr
einen ehrfürchtigen Blick. Bernd sieht die beiden mit einer Mischung aus
Abscheu und Bewunderung an. Dann wendet er sich wieder Anna zu, die eben zu
sich kommt und irgendetwas von ihrem Papa, einem Schanne und einer Schweinerei
murmelt, die einer der beiden veranstaltet hat.
Langsam öffnet
Anna ihre Augen und blinzelt in die Runde. Es ist viel dunkler als vorhin. Da
hat wohl jemand ein paar Lampen kaputtgemacht. Sie mag Dunkelheit nicht. Aber
hier unten sind sie wenigstens sicher. Mit zitternden Beinen steht Anna auf.
Katja schnappt sie an den Schultern, schüttelt sie ein wenig und stellt dann
lapidar fest: „Sie kann wieder gehen. Bissl wackelig, aber fürs Erste wird´s
reichen. Ich brauch dringend einen doppelten Schnaps, eine Dusche und was zu
essen. In genau dieser Reihenfolge. Los, verschwin…“
Vielleicht hätte Katja vorhin trotz gebotener Eile
noch einen letzten Blick nach draußen werfen sollen. Manche Dinge sieht man
schließlich nicht jeden Tag. Den Vollmond, der gütig auf eine eingeschworene
Gemeinschaft herableuchtet. Wieder erstandene Tote, die ihren Mitmenschen die
alternative Bedeutung von Fleischeslust näher bringen. Den Beamten der AFFE,
der die Szenerie von einem der Fenster aus beobachtet hat und hektisch
Anweisungen in ein Telefon bellt.
Der Anblick, der sich dem Quartett nun bietet, wäre
zwar genauso unangenehm, aber zumindest nicht ganz so überraschend.
Die Mündungen der Waffen wirken wie zu einem stummen
Schrei aufgerissene Schlunde. Direkt dahinter schimmern Pistolenläufe im fahlen
Licht einer einzelnen blassen Glühbirne. An die zwanzig Beamten der AFFE,
angeführt von einem hünenhaften Kerl, haben sich in dem schmalen Gang
versammelt. Die Freunde sind eindeutig in einer misslichen Lage. Vor ihnen
stehen bis an die Zähne bewaffnete Männer, die ihnen augenscheinlich nichts
Gutes wollen. Und über ihnen wandeln die Toten, die es auch nicht viel besser
mit ihnen meinen. Die Möglichkeiten sind begrenzt. Und nicht sehr attraktiv.
Das Schicksal zwingt die vier, zu springen. Sie müssen sich nur noch den
Abgrund aussuchen.
„Endstation,
Leute. Ihr habt euren Spaß gehabt, aber jetzt ist Schluss mit lustig. Abgesehen
davon, dass ihr gar nicht hier sein dürftet, habt ihr zu viel gesehen. Los!
Marsch! Rauf mit euch! Und … Mahlzeit.“ Gerade will Jo losstürmen und dem
Kommandanten, der eben gesprochen hat, das dümmlich Grinsen aus der Fratze
prügeln. Da drängt sich eine groß gewachsene, schlanke Gestalt durch die Menge
nach vorne, bedeutet dem Befehlshaber, seinen Helm abzunehmen und flüstert
etwas in sein Ohr. Der lässt
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