Touched
aufgesprungenen Lippen. »Tut mir leid, falls ich Ihnen Sorgen bereitet habe. Ich habe einen Spaziergang gemacht und darüber die Zeit vergessen.«
Sie strahlte. »Sag doch bitte Du zu mir!« Sie berührte mich aber nicht, als sie mir bedeutete, in das überdimensional große weiße Cottage einzutreten. So etwas hatte ich bislang nur auf Bildern von Cape Cod oder den Hamptons gesehen. Ich blickte mich erstaunt um, denn als wir gestern ankamen, war es schon dunkel gewesen. Es sah aus, als hätte das Meer das Haus durchflutet und hie und da etwas von sich zurückgelassen. In den Fenstern hingen an unsichtbaren Fäden abgeschliffene Glasscherben und schufen an Wänden und Decken farbenfrohe Lichtreflexe. In einem steinernen Kamin loderte ein Willkommensfeuer. Die Möbel und die Dekoration nahmen mit Blau- und sanften Brauntönen das Meeresthemawieder auf. Und es kam noch besser – die breiten Fenster boten einen freien Blick auf den Hafen und den Strand, den ich zuvor entlanggeschlendert war.
Im Spiegelbild konnte ich erkennen, wie Laura und Ben einen vertrauten Blick austauschten. Er lächelte sie aufmunternd an, und sie griff nach seiner Hand. Dass sie sich liebten, war offensichtlich. Wie es wohl gewesen wäre, bei ihnen aufzuwachsen? Ich bekam einen Kloß im Hals: Es tat nicht gut, sich die Dinge anders zu wünschen. Die Realität war beschissen, aber man entkam ihr nicht.
Als ich mich rührte und räusperte, lächelte Laura. »Hast du Hunger, Remy?«
»Nein danke. Ich habe im Café gefrühstückt.«
»Ach, natürlich. Na dann.«
Eine betretene Stille trat ein und keiner von uns wusste so recht, was wir als Nächstes tun sollten. Ich beschloss, mich zurückzuziehen. »Ben, würde es dir was ausmachen, wenn ich mich ein wenig ausruhe? Ich bin ziemlich müde.«
Auf der Herfahrt hatte er vorgeschlagen, nochmals ein Krankenhaus aufzusuchen, aber ich hatte mich geweigert. Anstatt das Thema erneut anzusprechen, sagte er: »Natürlich nicht. Du weißt noch, wo dein Zimmer ist?«
Ich nickte, ließ sie stehen und stieg die Treppe zu einem riesigen Dielenbereich hinauf, von dem beiderseits je zwei Schlafzimmertüren abgingen. Ich steuerte nach rechts und schob die Tür mit dem Fuß auf. Mein neues Zimmer war größer als die Zimmer von Anna und mir in Brooklyn zusammen, und es war mit Möbeln ausgestattet, die mehr gekostet hatten, als unser Sparbuch je gesehen hatte. Der Ausblick aus dem Fenster zog mich an.
Mein Atem gefror auf der Scheibe. Draußen schneite es nun und weißer Puder bestäubte das Seegras, das vom Strandher auf eine Ansammlung laubloser Ahornbäume zukroch. Der Geruch von feuchter Erde und Meerwasser durchdrang alles. Für ein Mädchen, das an die Betonwüste New Yorks gewöhnt war, hätte das deprimierend sein müssen. Mich jedoch faszinierte die ungezähmte Schönheit dieser Landschaft.
So, wie mich der Junge vom Strand fasziniert hatte.
Vielleicht hatte ich mir die Geschichte mit ihm ja nur eingebildet. Die normalen Nachwirkungen einer Heilung blieben nämlich aus und meine Schmerzen waren nicht neu. Dennoch hatte er gemerkt, dass mein Schutzwall heruntergefahren war, und hatte den Energiefluss wieder auf mich umgelenkt, bevor ich ihn scannen konnte. Fühlte es sich so an, wenn man sich auf der Empfängerseite meiner Energien befand? Mich hatte ein grobes Brummen durchströmt. Wenn ich jemanden scannte, entstanden ein Summen und Schmerz. Anna tat es weh, wenn ich ihre gebrochenen Knochen heilte, allerdings auch nicht mehr, als wenn ein Arzt sie behandelt hätte. Scharfer Schmerz gefolgt von ungemeiner Erleichterung, wie ich aus Erfahrung wusste.
Ob er auch Menschen heilen konnte? Vielleicht hatte er ja versucht, meine Verletzungen zu heilen. Falls ja, war es viel schmerzhafter, geheilt zu werden, als ich dachte.
Nein, seine Energie war anders. Gieriger. Furcht einflößender. Außerdem hatte er diese Narbe an der Augenbraue, die er hätte heilen können. Vielleicht verfügte er über andere Kräfte. Eine Welle der Erregung erfasste mich. Er war der erste Mensch, der so war wie ich. Liebend gern hätte ich mehr über ihn erfahren, aber mein Instinkt warnte mich davor.
Gute Instinkte hatten mich am Leben gehalten, und diese sagten, der Junge war gefährlich. Sollte ich ihn je wiedersehen, würde ich das Weite suchen. Das leise Bedauern, das ich bei dem Gedanken empfand, ließ sich verschmerzen.
Ich blickte auf die großartige Landschaft hinunter. Das Verlangen, dort draußen im Sturm zu
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