Touched
Spaziergang zum Leuchtturm an der Spitze der Insel. Ein freudiger Schauer lief mir über den Rücken, als ich auf die Aussichtsplattform hinaustrat und auf den Ozean hinunterblickte, der an die Felsen unter uns brandete. »Asher, das musst du sehen!«, hauchte ich.
Er kam nicht her, und als ich mich umdrehte, entdeckte ich ihn in geraumem Abstand von dem Geländer, das die Plattform umgab. »Asher?«
Er lächelte gequält. »Ich hasse Höhen, habe ich das schon erwähnt?« Er deutete auf seine Augenbraue und vergrub dann beide Hände in seinen Manteltaschen. Ich lehnte mich mit ihm ans Geländer, und er verzog das Gesicht. »Muss das sein?«
»Das ist absolut sicher. Da kann gar nichts passieren.« Ich drehte mich um und lehnte mich vor, um den Blick in mich aufzunehmen. Plötzlich packten mich zwei große Hände an den Hüften, und ich wurde ein ganzes Stück zurückgerissen, direkt an Ashers Brust. Er schlang seine Arme um mich, damit ich Ruhe gab. Dabei wäre ich sowieso nirgends lieber gewesen als in dieser wohligen Umarmung. Sein Kinn ruhte auf meinem Kopf. Es wehte eine kalte Brise, aber sein Körper schützte mich.
»Du hast recht. Von hier ist der Ausblick viel besser.«
Ich spürte seine Lippen auf meinem Haar, als er sprach. »Tut mir leid. Aber als du dich über das Geländer gebeugt hast, hätte mein Herz beinahe ausgesetzt.«
»Bist du mal irgendwo runtergestürzt? Und hast dir dabei die Narbe eingehandelt?«
»Hmm. Gleich nach dem Krieg.« Er zögerte, und ich überlegte, wie er sich wohl verletzt haben könnte.
»Ich dachte, die Beschützer seien – mal abgesehen von unseren besonderen Umständen – unbesiegbar.«
»Nein. Nicht unbesiegbar. Wir können verletzt werden und sogar sterben, aber dazu sind schon ziemlich große Anstrengungen nötig.«
Er klang nachdenklich, und ich runzelte die Stirn. »Das hört sich ja so an, als hättest du es versucht.«
Als er weiterhin schwieg, drehte ich mich in seiner Umarmung zu ihm um. Seine Miene war undurchdringlich. »Asher, was ist geschehen?«
Er strich mir eine störrische Strähne hinters Ohr. »Das ist schon so lange her, Remy.«
Die Endgültigkeit in seinem Ton machte klar, dass er nicht darüber sprechen wollte, und das traf mich mehr, als ich erwartet hatte. Er wollte alles von mir, war aber nicht bereit, dasselbe zu geben. Ich trat einen Schritt zurück und fuhr meinen Schutzwall hoch.
Asher streckte die Hände nach mir aus. »Remy, nicht. Es ist nicht das, was du denkst.«
Ich winkte lässig ab. »Mach dir keinen Stress deswegen.«
Asher ließ sich von meinem abweisenden Ton nicht täuschen. »Ich habe deine Gefühle verletzt und das wollte ich nicht. Ich schäme mich dafür, was damals geschah, und habe Angst, dass du nicht mehr so viel von mir halten wirst, wenn du die Wahrheit kennst. Es war eine Reaktion aus dem Bauch heraus.«
»Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich verstehe schon.«
Er zog mich wieder zu sich her. «Nein, das glaube ich nicht«, flüsterte er mir sanft ins Ohr. Beschämt, dass ich so gut zu durchschauen war, blickte ich auf meine Füße. »Du gewährst mir Zutritt zu deinen Gedanken und teilst deine Erinnerungen mit mir, doch deine Mauern sind höher denn je. Dein Herz bewachst du noch immer, und ich habe höllische Angst davor, dass ich das Falsche sage oder tue und dass dumich dann völlig ausschließt. Eines Tages wird dir nämlich aufgehen, dass eine Heilerin einem Beschützer nicht vertrauen sollte.« Er schüttelte mich sanft und ich sah ihn erschrocken an. »Ich hatte aufgegeben, mir mehr zu wünschen. Aber du bringst mich dazu, mehr zu wollen.«
Nicht ein Wort formte sich auf meinen gelähmten Lippen. Kein einziges. Wenn es am dringendsten nötig war, ließ mich mein Hirn im Stich. Ashers Heftigkeit nahm mir den Atem, und ich erwiderte seinen Blick wie das stumme, kleine Dummchen, zu dem ich plötzlich mutiert war. Als ich nicht reagierte, sah er mich verletzt an. Er ließ mich los, und der Augenblick war vorbei.
»Macht es dir was aus, wenn wir uns jetzt auf den Rückweg machen?«, erkundigte er sich mit distanzierter Höflichkeit. »Ich habe deinem Vater versprochen, dich nicht zu spät zurückzubringen.«
Die kurze, stille Fahrt zur Anlegestelle der Fähre erwies sich als die längste Fahrt meines Lebens. Es hätte auch nichts mehr genützt, wenn ich in der Lage dazu gewesen wäre zu sprechen, denn Asher hatte dicht gemacht. Ich schien ein echtes Talent dafür zu haben, die Menschen, die ich
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