Toxic: Der Biss - Das Feuer - Die Hölle Thriller (German Edition)
Rede ist. Das meinte zumindest Susan Dahoney.«
»Damit hatte sie Recht«, stimmte Erickson zu. »Aber die anderen beiden, vor allem, wenn man sie zusammen betrachtet … «
Er hielt mitten im Satz inne, stand vom Schreibtisch auf und trat auf eines der vielen Bücherregale zu, die hinter mir die Wand bedeckten und sich unter der Last von Papieren, Zeitschriften und Ordnern bogen. Er ließ den Finger über pralle Papierbündel gleiten, zog eines heraus und kramte darin herum.
»Hier«, sagte er schließlich. »Ich glaube, das ist es, wonach Sie suchen.«
Erickson warf mir eine glänzende Schwarzweißfotografie in den Schoß. Sie zeigte einen strengen Mann mit einem wie aus Granit gemeißelten Gesicht, der auf einem Dielenboden vor einem schlichten Altar stand. Ein einfaches Kreuz hing hinter ihm an der Wand. Er trug ein gestärktes weißes Hemd, das bis oben hin zugeknöpft war, eine schwarze Hose und Nagelstiefel. Seine weit geöffneten Augen blickten ohne Furcht auf eine wütende Klapperschlange, die sich in seinen Händen wand. Um ihn herum versammelt standen ähnlich gekleidete Männer und nicht gerade attraktive Frauen in sackartigen Kleidern mit Blümchenmuster. Alle hatten die Hände gen Himmel gereckt, etliche zeigten einen entrückten Gesichtsausdruck.
»Ihr Mörder ist oder war vermutlich ein Mitglied einer dieser Schlangensekten in den Appalachen«, sagte Erickson. »Diese so genannten ›Holiness-Gemeinden‹ sind aus der Pfingstbewegung entstanden. Ihre Mitglieder trinken Strychnin, und ihre Gottesdienste finden immer mit Schlangen statt. Der Apostel Paulus spielt bei ihnen eine besondere Rolle, weil ihm ein Schlangenbiss nichts anhaben konnte. Sie berufen sich vor allem auf Kapitel sechzehn des Evangeliums nach Markus. Ehrlich gesagt wundert es mich ein bisschen, dass Dahoney Sie nicht darauf aufmerksam gemacht hat.«
»Warum meinen Sie, dass sie die Verbindung gesehen haben müsste?«
»Ihre Familie gehörte der Pfingstbewegung in West Virginia an«, sagte Erickson und nahm wieder Platz. »Sie ist im Norden der Appalachen aufgewachsen. Das Kerngebiet dieser Bewegung liegt zwar mehr in Kentucky und südlich davon, aber ich hätte doch gedacht, dass ihr das bekannt ist.«
Ich ließ mir das durch den Kopf gehen, zuckte dann aber die Schultern und blickte wieder auf das Foto. »Erzählen Sie mir mehr über diese Leute – alles, was mir Ihrer Meinung nach nützlich sein könnte.«
Erickson und ich saßen noch bis spät in den Abend zusammen. So merkwürdig der Professor aussah, er war ein helles Köpfchen und besaß ein glänzendes Gedächtnis. Wenn ihm etwas nicht gleich einfallen wollte, zog er aus irgendeinem Winkel seines Büros einen Artikel oder ein Buch hervor. Der Kern der Sache war, dass die heutigen Sektenmitglieder von christlichen Siedlern abstammten, die sich im späten achtzehnten Jahrhundert in den Ebenen von North und South Carolina, im südlichen Kentucky, im östlichen Tennessee und in den Bergen von Georgia und Alabama angesiedelt hatten.
Zwei Jahrhunderte lang führten ihre Nachkommen ein entbehrungsreiches, bäuerlich geprägtes Leben in Abgeschiedenheit. Sie kannten nichts außer körperlicher Arbeit, Schlaf und Gebet. Sie kleideten sich einfach, verzichteten auf Alkohol, Tabak, Schmuck und Make-up, und sie glaubten, dass sie in ihrem strengen Glauben auf dem Pfad der Heiligkeit wandelten, weshalb sie sich »Holiness«-Gemeinde nannten.
Doch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts geriet diese Lebensweise in Gefahr. Viele Anhänger dieses Glaubens verloren ihr Land und mussten sich Arbeit in den umliegenden Sägemühlen und Bergwerken, auf Baustellen und in den neuen Handelszentren der größeren Städte des Südens suchen. Natürlich verließen nicht wenige den strengen Pfad ihrer Vorväter und erlagen den Versuchungen der modernen Welt: Schnaps und Whiskey, Tanz, Kino, Zigaretten, Poker, Ehebruch, Hurerei, und sogar der schlimmsten von allen – der Homosexualität.
»Für viele Abkömmlinge der ursprünglichen Holiness-Gemeinde war die Verbreitung der Homosexualität unter ihren Glaubensbrüdern ein endgültiger Beweis, dass sie in einem modernen Sodom und Gomorrha lebten«, erklärte Erickson.
Die Folge war, dass viele von ihnen in die Berge zurückkehrten und sich wieder jenen Dingen zuwandten, durch die sie annähernd zwei Jahrhunderte lang das unflätige und verdorbene Amerika abgewehrt hatten: der Heiligen Schrift, ihren schlichten Holzkirchen und einer neuen Art
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