Toxin
Staaten zweihundert bis dreihundert Millionen Fälle im Jahr geben sollte. Wenn diese Zahl wirklich stimmte, erschien es ihm unbegreiflich, daß er bei seiner regelmäßigen Lektüre medizinischer Fachzeitschriften nie darauf gestoßen war.
Gedankenversunken öffnete er die Haustür und warf seine Schlüssel auf die Ablage in der Diele. Er wollte gleich im Internet nachsehen, ob die Zahl über die Häufigkeit von Lebensmittelvergiftungen sich dort verifizieren ließ. Als er aus der Küche den eingeschalteten Fernseher hörte, öffnete er die Tür. Ginger stand an der Küchentheke und kämpfte mit dem in die Arbeitsfläche integrierten Dosenöffner. Sie trug einen enganliegenden Body, durch den fast alles zu sehen war. An Samstagen und Sonntagen zog sie konsequent ihr Aerobic-Programm durch. Becky lag auf dem Sofa und hatte sich bis zu den Ohren unter eine Decke gekuschelt. Sie sah sich Zeichentrickfilme an. Unter der grünen Wolldecke wirkte sie ziemlich blaß. Da es Becky nicht gutging, hatten sie den vergangenen Abend zu Hause verbracht. Ginger hatte zum Abendessen Hähnchen zubereitet, doch Becky hatte nur sehr wenig davon probiert und war früh ins Bett gegangen. Ginger war über Nacht geblieben. Kim hoffte, daß die beiden in seiner Abwesenheit gut miteinander ausgekommen waren. Eigentlich hatte er sie noch im Bett vermutet.
»Hallo, ihr beiden!« rief er. »Ich bin wieder da!« Weder Becky noch Ginger antworteten. »Verdammt!« fluchte Ginger. »Dieser Dosenöffner ist absoluter Schrott!«
»Wo ist das Problem?« fragte Kim und eilte ihr zu Hilfe. Ginger hatte es inzwischen aufgegeben, sich mit der Dose abzumühen. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und sah verzweifelt aus.
»Ich kriege diese blöde Dose nicht auf«, schimpfte sie. »Gib her, ich mache sie auf«, bot Kim an und nahm die Dose. Doch bevor er sie öffnete, musterte er skeptisch das Etikett. »Was ist das?«
»Hühnerbrühe«, erwiderte Ginger. »Steht doch drauf.«
»Und was willst du morgens um neun mit Hühnerbrühe?« fragte Kim.
»Sie ist für Becky«, erwiderte Ginger. »Meine Mutter hat mir früher immer Hühnerbrühe gegeben, wenn ich Durchfall hatte.«
»Ich habe ihr gesagt, daß ich keinen Hunger habe«, rief Becky vom Sofa herüber.
»Meine Mutter wußte ganz genau, was sie tat«, sagte Ginger. Kim stellte die Dose auf die Arbeitsfläche, umrundete die Küchentheke und ging ans Sofa, wo er Becky die Hand auf die Stirn legte. Sie drehte ihren Kopf, um den Bildschirm im Auge zu behalten.
»Geht es dir etwas besser?« fragte Kim. Die Stirn fühlte sich heiß an, aber vielleicht lag das auch nur an seiner kalten Hand. »Ungefähr genauso wie gestern«, erwiderte Becky. »Ich möchte nichts essen. Davon werden die Krämpfe nur noch schlimmer.«
»Sie muß etwas essen«, insistierte Ginger. »Sie hat schon gestern abend so gut wie nichts angerührt.«
»Wenn ihr Körper ihr zu verstehen gibt, daß er nichts haben will, sollte sie auch nichts essen«, sagte Kim. »Aber sie mußte sich übergeben«, fügte Ginger hinzu. »Stimmt das, Becky?« fragte Kim. Erbrechen war ein neues Symptom.
»Ein bißchen«, gestand sie.
»Vielleicht sollten wir sie zu einem Arzt bringen«, schlug Ginger vor.
»Was glaubst du denn, was ich bin?« fuhr Kim sie an. »Du weißt genau, was ich meine«, entgegnete Ginger. »Du bist der beste Herzchirurg der Welt, aber von Kinderbäuchen verstehst du nicht besonders viel.«
»Wie wär’s, wenn du mal nach oben gehst und das Fieberthermometer holst?« schlug Kim vor.
»Wenn du mir sagst, wo ich es finden kann«, erwiderte Ginger bereitwillig.
»Im großen Badezimmer«, erklärte Kim. »In der obersten Schublade rechts.«
»Hast du immer noch Krämpfe?« wandte er sich dann wieder an seine Tochter. »Ja, manchmal«, gestand Becky. »Sind sie schlimmer als gestern?«
»Ungefähr gleich«, erwiderte sie. »Manchmal sind sie weg, und dann kommen sie plötzlich wieder.«
»Und der Durchfall?« fragte Kim weiter. »Müssen wir unbedingt über so etwas Peinliches reden?« fragte Becky zurück.
»Schon gut, mein Schatz«, gab Kim sich zufrieden. »In ein paar Stunden wirst du dich wieder besser fühlen, da bin ich ganz sicher. Aber willst du wirklich nichts essen?«
»Ich habe keinen Hunger«, erwiderte Becky. »Na gut«, sagte Kim. »Aber sag mir Bescheid, wenn du Appetit bekommst.«
Als Kim in die Straße einbog, in der Tracy wohnte, und vor ihrem Haus anhielt, war es bereits dunkel. Er stieg
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