Toxin
deiner Wünsche für unsere Tochter nie irgendein Werturteil geäußert«, sagte Tracy. »Ich habe Becky lediglich unterstützt, als sie mir erzählt hat, daß sie nicht sicher sei, ob sie an so einem Wettbewerb überhaupt teilnehmen solle. Allerdings habe ich ihr prophezeit, daß du vermutlich auf sie einreden wirst, damit sie ihre Meinung ändert. Mehr habe ich nicht gesagt.«
Kim durchbohrte seine Ex-Frau mit einem finsteren Blick. Wie jedesmal, wenn es im Streit um irgendwelche psychologischen Aspekte ging, machte ihr überlegenes Gehabe ihn rasend. Daß sie sich berufen fühlte, ihre Tochter vor seiner möglichen Reaktion zu warnen, brachte ihn schier auf die Palme. »Gute Nacht!« wiederholte Tracy. Sie hielt noch immer die Tür auf. Kim drehte sich um und ging.
Kapitel 6
Montag, 19. Januar
Obwohl er ihn nur selten brauchte, stellte Kim seinen Wecker immer auf Viertel nach fünf. Normalerweise wurde er kurz vor dem Klingeln wach und stellte den Wecker aus, bevor er seine Morgenruhe stören konnte. Seit seinem ersten Jahr als Assistenzarzt stand er allmorgendlich vor der Dämmerung auf, und auch an diesem Morgen machte er keine Ausnahme. Er sprang aus dem Bett und eilte nackt durch den stockdunklen Raum ins Bad.
Das dann folgende morgendliche Ritual spulte er ab wie ein programmierter Roboter. Er öffnete die schwere Glastür der Dusche und drehte den Wasserstrahl voll auf. Da Tracy und er immer lieber geduscht als gebadet hatten, war das Bad der einzige Raum gewesen, den sie nach dem Kauf ihres Hauses vor zehn Jahren umgebaut hatten. Sie hatten die Badewanne und die mit ihr verbundene, winzige Duschkabine herausreißen und statt dessen eine einssiebzig mal drei Meter große Dusche einbauen lassen. Sie war an drei Seiten mit Marmorkacheln ausgekleidet, die vierte bestand aus dickem Glas, genauso wie die Tür, deren vertikal ausgerichtete, U-förmige Handgriffe aus glänzendem Messing aussahen, als ob sie das dicke Hartglas durchbohrten. Kim liebte sein extravagantes Bad und hätte es sich durchaus als Motiv für ein doppelseitiges Foto in einer Design-Fachzeitschrift vorstellen können. Sein Frühstück nahm er wie immer auf dem Weg zur Arbeit ein. Er hielt an einem Dunkin’-Donuts-Imbiß in der Nähe seines Hauses, bestellte sich einen Donut und einen Milchkaffee und frühstückte, während er durch die Dunkelheit fuhr. Zudem nutzte er die Zeit, indem er sich Kassetten über medizinische Themen anhörte. Um sechs war er bereits in seiner Praxis und diktierte Briefe oder füllte Schecks aus, um die unzähligen Rechnungen zu begleichen. Pünktlich um Viertel vor sieben war er im Krankenhaus und machte seine Lehrrunde mit den Ärzten, die eine Fachausbildung als Thoraxchirurg absolvierten. Er legte großen Wert darauf, bei diesen Rundgängen seine eigenen Patienten zu besuchen. Um halb acht mußte er sich zu der täglich stattfindenden Krankenhausbesprechung im Konferenzraum einfinden. An diesem Morgen ging es um Referenzen und Einweisungsprivilegien.
Anschließend traf er sich mit Kollegen aus der Herzchirurgie, deren Forschungsarbeiten er überwachte oder an denen er selber mitarbeitete. Als er auch diese Besprechung hinter sich gebracht hatte, kam er ein paar Minuten zu spät zur sogenannten großen Chirurgenrunde, wo er an diesem Morgen den Fall eines dreifachen Herzklappenersatzes präsentierte. Um zehn war er endlich wieder in seiner Praxis und mit seinem Zeitplan bereits in Verzug, denn Ginger hatte die Termine für die ersten Notfall-Patienten schon für halb zehn und Viertel vor zehn vergeben. Seine Arzthelferin, Cheryl Constantine, hatte die Patienten bereits in die beiden Untersuchungsräume geführt.
Der Morgen verging, und Kim untersuchte einen Patienten nach dem anderen. Sein Mittagessen bestand aus einem Sandwich, das Ginger ihm bestellt hatte. Während er aß, studierte er Katheter- und Röntgen-Ergebnisse. Anschließend fand er sogar noch Zeit, einen Kardiologen aus Salt Lake City zurückzurufen, der ihn wegen einer bevorstehenden dreifachen Herzklappenersatz-Operation um Rat gebeten hatte. Der Nachmittag war genauso stressig wie der Vormittag. Der Strom der Patienten riß nicht ab, und zudem mußte Ginger auch noch ein paar Notfälle in den ohnehin schon engen Terminplan einschieben. Um vier unterbrach Kim seinen Praxisbetrieb und eilte zum Krankenhaus hinüber, wo er sich um einen seiner stationären Patienten kümmern mußte, bei dem ein kleineres Problem aufgetreten
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