Toxin
in einen Behälter. Dann notierte sie die Daten für die Rechnungsstellung. Kim gab seine Praxis-Kontonummer an.
»Wann haben Sie das Ergebnis?« fragte er. »In achtundvierzig Stunden«, erwiderte die Frau. Kim bedankte sich, wusch sich auf der Toilette die Hände und ging zurück zum Auto.
Je näher er dem Krankenhaus kam, desto nervöser wurde er. Als er den Wagen parkte, begannen seine Hände zu zittern, und während der Fahrstuhlfahrt nach oben bebte sein ganzer Körper. Da er Tracy lieber erst gegenübertreten wollte, nachdem er Becky gesehen hatte, nahm er einen Weg, der nicht am Warteraum der Intensivstation vorbeiführte. Die Menschen, denen er auf den Gängen begegnete, sahen ihm neugierig hinterher, was er gut verstand. Er sah furchtbar aus; nicht nur sein Kittel war schmutzig, er brauchte dringend eine Dusche und mußte sich kämmen und rasieren.
Auf der Intensivstation nickte er der Stationssekretärin zu. Während er sich dem kleinen Raum näherte, in dem Becky lag, schloß er in Gedanken einen Pakt mit Gott: Wenn Becky überlebt…
Leise schlich er sich an Beckys Bett. Eine Schwester war gerade dabei, die Infusionsflasche zu wechseln und kehrte ihm den Rücken zu. Er betrachtete seine Tochter. Der kleine Funke Hoffnung, daß ihr Zustand sich vielleicht gebessert hatte, erstarb. Sie lag noch immer im Koma. Man hatte ihr die Augenlider mit Klebestreifen zugeklebt, und sie war intubiert und mußte beatmet werden. Außerdem hatten sich unter ihrer Gesichtshaut große, violette Flecken gebildet - ein Hinweis auf subkutane Blutungen. Sie sah aus wie eine lebendige Leiche.
»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt«, sagte die Schwester, als sie Kim erblickte. Sie preßte sich eine Hand auf die Brust. »Ich habe Sie gar nicht gehört.«
»Becky sieht nicht gut aus.« Kim bemühte sich, mit beherrschter Stimme zu sprechen, um seinen Kummer, seine Wut und das erniedrigende Gefühl der Machtlosigkeit, das ihn quälte, zu verbergen.
»Da haben Sie leider recht«, bestätigte die Schwester und musterte Kim mißbilligend. »Der arme kleine Engel hat eine schlimme Zeit durchgemacht.«
Kim warf einen Blick auf den Herzmonitor. Der Piepton war unregelmäßig, die Cursorlinien ebenfalls. »Sie hat Herzrhythmusstörungen! Wie lange hat sie die schon?«
»Noch nicht lange«, erwiderte die Schwester. »Es hat gestern nacht angefangen. Zuerst mit einem Perikarderguß, aber der hat ziemlich schnell zu Anzeichen einer Herzbeuteltamponade geführt. Sie mußte punktiert werden.«
»Wann?« fragte Kim. Jetzt plagten ihn noch schlimmere Schuldgefühle, daß er nicht da gewesen war. Mit Perikardergüssen hatte er einige Erfahrung.
»Heute morgen, kurz nach vier«, erwiderte die Schwester.
»Ist noch jemand von den Ärzten da?« fragte Kim.
»Ich glaube, ja«, erwiderte die Schwester. »Soweit ich weiß, sind sie im Warteraum und sprechen mit Beckys Mutter.« Kim verließ fluchtartig das Zimmer. Er konnte es nicht länger ertragen, seine Tochter in einem so elenden Zustand zu stehen. Auf dem Flur blieb er kurz stehen, um Luft zu holen und sich halbwegs zu fassen. Dann steuerte er den Warteraum an. Tracy unterhielt sich mit Dr. Stevens und Dr. Morgan. Als sie Kim erblickten, unterbrachen sie ihr Gespräch. Für einen Augenblick sagte niemand ein Wort. Tracy wirkte völlig verzweifelt. Sie hatte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepreßt, ihre Knie aneinandergedrückt und die Hände im Schoß gefaltet. In ihrem traurigen, verwirrten Blick lagen Besorgnis und Verachtung. Sie schüttelte den Kopf. »Wie siehst du denn aus? Wo bist du gewesen?«
»Mein Besuch im Onion Ring hat länger gedauert als erwartet«, erklärte Kim und sah Dr. Stevens an. »Jetzt hat Becky also zu allem Übel auch noch eine Perikarditis.«
»Ich fürchte, so ist es«, bestätigte Dr. Stevens. »Mein Gott!« stöhnte Kim. »Und was kommt als nächstes?«
»In diesem Stadium müssen wir mit allem rechnen«, erwiderte Dr. Morgan. »Das Labor hat uns inzwischen bestätigt, daß wir es mit einem äußerst pathogenen Stamm von E. coli zu tun haben, der nicht nur ein außerordentlich wirksames Toxin bildet, sondern gleich zwei. Wir haben also genau das, was wir befürchtet hatten: ein voll ausgeprägtes HUS.«
»Was ist mit Plasmapherese?« fragte Kim. »Dr. Ohanesian hat den Vorsitzenden der Prüfungskommission bekniet«, erwiderte Dr. Stevens. »Aber wir hatten Sie ja gewarnt - wahrscheinlich wird die Kommission nicht zustimmen.«
»Warum
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