Tränen der Lilie - Die Kristallinsel (Dreamtime-Saga) (German Edition)
dem
spiegelglatten, durchsichtigen Meer. Angespannt stellte er den Motor ab und warf
den Anker aus. Dann nahm er seine Sonnenbrille ab, zog sich bis auf seine
Badeshorts aus und lehnte sich gegen den Bug.
Sein Blick streifte den
wolkenfreien, strahlend blauen Horizont. Die Sonnenstrahlen prickelten auf
seiner nackten Haut. Lautlos zogen wilde Vögel und Möwen ihre Bahnen über seinem
Kopf. Kleine Fische hüpften übermütig aus dem Wasser. Es war absolut still, das
Meer sprach noch nicht zu ihm. Jai fühlte, wie die sich die Ruhe der Natur auf
sein Innerstes übertrug. Eingebettet von der sanften Meeresbrise, wurde die Ruhe
zu einer Farbe der Seele, die sich auf ihn übertrug. Tief atmete er den salzigen
Duft des Meeres ein und ließ seine Gedanken wandern.
Er setzte sich auf die
Teakplanken des Bootes und betrachtete seine langen, schlanken Hände. Im
trockenen Zustand sah man ihnen nichts an. Sie wirkten völlig normal. Langsam
beugte er sich über die Reling und ließ seine rechte Hand in das warme,
türkisfarbene Wasser gleiten.
Es dauerte nicht lange, bis das
Meer Jais Geheimnis offenbarte. Er sah, wie sich, wie immer im Kontakt mit dem
Meer, zwischen jedem seiner Finger die verborgenen Hautlappen entfalteten und
sich hauchdünne filigrane Schwimmflossen bildeten. Eines der Attribute, die
seine Mutter ihm vererbt hatte.
Aber er wollte jetzt nicht an
seine Mutter und schon gar nicht an seinen Erzeuger denken. Das Wort Vater kam
ihm dabei schon gar nicht über die Lippen. Das hatte er sich schon seit Jahren
verboten, denn sonst würden der Schmerz und der Hass ihn zum Verglühen bringen.
Er hatte seiner Mutter auf dem
Totenbett versprochen, die Familientragödie für sich zu behalten und niemandem
von der Schande zu erzählen. Und bis jetzt hatte er sich stoisch an sein
Versprechen gehalten. Er strich sich mit beiden Händen übers Haar und dachte an
Sébastiens letzten Satz zu Amy, den er im Rausgehen aufgeschnappt hatte.
Ich glaube, er ist ein Hybrid,
aber so genau weiß das keiner . Ein leichtes Lächeln stahl sich in Jais
Mundwinkel. Kein Geisterkrieger des Ordens hatte je gewagt, ihn nach seiner
Vergangenheit zu fragen. Und es ging auch keinen etwas an. Nur der weise Rat des
Ordens kannte sein Geheimnis. Und das sollte auch so bleiben, beschloss Jai.
Trotz der kumpelhaften Freundschaft, die er mit Sébastien pflegte.
Der schwarze Puma mit den rauen
Manieren war einer der wenigen Geisterkrieger, die er näher an sich heranließ.
Dann versuchte er, die Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen und sich zu
konzentrieren. Das Warten begann.
Immer mehr spürte er die
magischen Kräfte des Meeres, seines Geburtstortes. Ausdruckslos blickte er auf
die spiegelglatten Wellen und versuchte alle weltlichen Gedanken aus seinem Kopf
zu verdrängen. Die Minuten vergingen. Dann endlich spürte er den Geist seiner
Mutter in sich und ihre Stimme in seinem Inneren.
»Anakku, das Meer hat eine Seele.
Gehe nie den Weg, der vorgeschrieben ist. Gehe neue Wege und finde die Wahrheit.
Lass dich fallen und höre, was das Meer dir zu sagen hat.«
Gehorsam erhob Jai sich und
setzte sich auf die Reling. Kurz darauf spannte er seinen Oberkörper an,
streckte beide Arme zu den Seiten aus und glitt geräuschlos rückwärts ins Meer.
Im Kontakt mit dem Salzwasser kamen seine Flossen zwischen den Fingern zum
Leben.
Seine Lunge schloss sich und die
letzten Luftbläschen trieben an die Oberfläche. Ein Ruck ging durch seinen Kopf
und dann hatte sich sein ganzer Körper auf das Element Wasser umgestellt. Er
musste nicht mehr über seine Lunge atmen. Das übernahmen jetzt seine Kiemen, die
gut getarnt als kleine Schlitze hinter seinen Ohren lagen.
Ab jetzt war er in der Lage
sechzig Minuten unter Wasser zu bleiben, ohne aufzutauchen. Er tauchte unter,
der Melodie des Meeresflüsterns entgegen. Das Anemonenriff begann schon drei
Meter unter der Wasseroberfläche seine faszinierende Schönheit zu entfalten.
Riesige Schwärme von kleinen Barrakudas und Süßlippenfischen empfingen Jai,
nahmen ihn in ihrer Mitte auf und begleiteten ihn neugierig bei seinem Abstieg
auf den Meeresgrund.
Der riesige Felsen war von
unzähligen, kleinen Spalten durchzogen und Jai, der unter Wasser ein
hervorragendes Sehvermögen besaß, entdeckte dort mehrere Seepferdchen, die sich
gut getarnt kaum von ihrer Umgebung unterschieden. Normalerweise begann er seine
Tauchgänge mit einem direkten Abstieg auf
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