Tränen der Lilie - Die Kristallinsel (Dreamtime-Saga) (German Edition)
den Grund und suchte sich dann
spiralförmig einen Weg zurück an die Wasseroberfläche.
Doch eine heftige, unvermutete
Strömung hinderte ihn daran. Langsam suchte er sich einen Weg im Schatten der
Strömung, bis er in über zwanzig Metern Tiefe die unzähligen Anemonen entdeckte,
die sich wie ein Teppich über den Felsen schmiegten. Herrliche Fächerkorallen
mit einer Spannbreite von zwei bis drei Metern tanzten filigran in einem
rötlichbraunen Geflecht zum Klang der Wellen. Dazwischen zog ein Riffhai
majestätisch seine Runde.
Gefolgt von einem bunten Schwarm
lustig tänzelnder Schmetterlings- und Papageienfischen, die die Korallen
abgrasten. Am sandigen Boden wurde die Sicht schlechter. Jai trieb ab und
tauchte weiter östlich den Steilhang entlang und bewunderte eine Mördermuschel,
auf der sich eine bläulich schimmernde Babymuschel angesiedelt hatte.
Gemächlich ließ er sich
weitertreiben und entdeckte in eine Nische des Riffs eine große, gestreifte
Garnele, deren Fühler mindestens eineinhalb Meter erreichte und die ihn
misstrauisch aus ihren schwarzen Knopfaugen beäugte. Jai lachte. Er sah diese
faszinierenden Kreaturen des Meeres niemals als Nahrungsmittel an, er aß
generell keinen Fisch oder Meeresfrüchte, denn er betrachtete sie mit den Augen
seiner Mutter und er fühlte sich ihnen verbunden.
Sie alle waren farbenfrohe,
geheimnisvolle Geschöpfe des Meeres und sozusagen seine Artgenossen.
Genauso, wie die Indianer niemals
ihr eigenes Totemtier töten und verspeisen würden, kam es auch ihm niemals in
den Sinn, seine Artgenossen zu töten und auf den Grill zu schmeißen.
Andächtig berührte er eine
Fächerkoralle, die daraufhin ihre filigranen Schleier um seine Hand schlängelte
und er spürte in dieser Meeresoase die Ruhe, die in seinem Innersten widerklang.
Dieses Gefühl des absoluten Schweigens war Balsam für seinen sonst so
adrenalingetränkten Körper. Und das fühlte er nur hier, in der Unterwasserwelt.
Noch nicht einmal mit einer Frau im Bett hatte er je diese wundersame,
losgelöste Ruhe empfunden.
Langsam drehte er sich auf den
Rücken und ließ sich von der Unterwasserströmung treiben. Das Warten hatte sich
gelohnt.
Jetzt war sein Geist entspannt
und er konnte sich auf die Klänge der Visionen einlassen und sie hören. Alles,
was je an diesem Ort und der näheren Umgebung passiert war, rieselte jetzt in
seine Gedanken.
Dann ließ er sich auf dem Rücken
treiben, schloss die Augen und nahm die Stimme des Meeres und die Visionen in
sich auf. Die Seelen erwachten. In seinem Geist hörte er die Schreie ertrunkener
Seeleute, der Selbstmörder, die das Meer zu ihrem Grab gemacht hatten. Und dann
hörte er jäh die markerschütternden, sich tief in seinen Kopf eingrabende
Babyschreie.
Entsetzt öffnete er die Augen und
sah sich in der Unterwasserwelt um. Doch er konnte weder eine erwachsene
Gestalt, noch ein Baby entdecken. Doch mitten in seinem Suchen, vernahm er wie
aus heiterem Himmel, eine zarte und verlockende Stimme, die in seinen Gedanken
widerhallte.
»Tu nu mă poți
scăpa. Sufletul tau este al meu«
Reflexartig schoss sein Körper
nach vorne, er drehte sich und richtete seine Körper kampfbereit auf. Wer hatte
diese bedrohlichen Worte gesprochen? Jai spähte durch das Wasser, aber das
einzige, was er sah, war die Idylle einer normalen Unterwasserwelt mit Anemonen,
Fischen, Krebsen und Seepferdchen, die sich gegenseitig umgarnten.
Wo zum Teufel war die böse Seele,
die seine Gedanken vernebelte? Er hörte das Echo ihrer Bestimmung in seinem
Innersten widerhallen, also musste sie hier irgendwo in der Nähe sein. Er
spannte seine Muskeln an und tauchte tiefer, bis er eine verborgene
Unterwasserhöhle entdeckte. Sein Kopf platze fast von dem sirenenartigen Tönen
der Stimme, die immer die gleichen Worte wiederholte, die er komischerweise
verstehen konnte.
Aber er wusste, dass sein Geist
unter Wasser schon immer sehr viel mehr verstand als an Land.
»Tu nu mă poți
scăpa. Sufletul tau este al meu … Du kannst mir
nicht entkommen. Deine Seele gehört mir …«
Sein Kopf ruckte herum. Hier
musste es sein. Vorsichtig schwamm er in die Höhle hinein. Seine Hand streifte
eine Muräne, die hastig schlängelnd davonschwamm und dabei die Tentakel eines
Tintenfisches berührte, der sofort in Warnposition ging und seine blaue Tinte
verströmte. Sofort tönte sich das Grottenwasser dunkelblau und Jai wurde von
einer fast
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