Tränen der Lilie - Die Kristallinsel (Dreamtime-Saga) (German Edition)
möchtest, dann zeige ich
dir unsere Tempelrituale.«
Wortlos ließ er es zu, dass Nahla
ihn zu sich hinunterzog. Sie zündete drei Räucherstäbchen an. Dann hielt sie
diese in die Luft und wartete einen Augenblick. Ein leichter Windzug kam auf.
Das Feuer erlosch und der würzige Duft von Weihrauch umwehte sie beide.
Mit einer Verbeugung kniete sie
sich vor die Buddhastatue und steckte dort die Stäbchen in den Sand. Danach
holte sie aus ihrer bestickten Tasche ein kleines Briefchen. Darin eingewickelt
glänzte hauchdünnes Blattgold.
Fragend sah er sie an, als sie
eines der Goldblättchen nahm und vorsichtig auf die Fingerspitze legte. Lächelnd
nahm sie seinen Finger und führte ihn zum Herzen Buddhas. Fest rieb sie das
Goldblättchen auf diese Stelle. Das wiederholte sie schweigend am Bauch und am
Kopf der Statue.
»Das sind die drei wichtigsten
menschlichen Stellen am Körper. Sie ehren wir mit dem Gold. Es soll Glück
bringen«, flüsterte sie ihm leise zu. Mit geschmeidigen Bewegungen erhob sie
sich und führte ihn zu einer silbernen Schüssel. Wieder leitete sie seine Hand
und gemeinsam gossen sie drei Schöpfe Öl in eine Lampe.
»Das machen wir, damit die
heilige Flamme zu Ehren Buddhas niemals verlischt«, erzählte sie mit ihrer
melodischen Stimme. Die tanzende Flamme spiegelte sich in ihren veilchenblauen
Augen und die langen Schatten umschmeichelten die Konturen ihres Körpers. Noch
niemals war sie Sébastien schöner erschienen als in diesem Moment.
Ein weiterer Brocken krachte in
seinem Innersten zu Boden. Auf seiner unbeweglichen Mine spürte er ihren Blick
ruhen. Doch dann leitete sie ihn weiter zu einem steinernen Tisch. Dort nahm sie
eine kleine Holzrolle und legte sie ihm in die Hand.
Dann schlossen sich ihre Finger
um seine und sie begann mit leichten Bewegungen das Kästchen zu schütteln.
»Jetzt müssen wie es öffnen und jeder muss, ohne zu gucken, ein nummeriertes
Holzstäbchen ziehen.«
Nahla klärte ihn auf. »Das sind
Glücksstäbchen. Die Zeichen darauf sind Prophezeiungen. Nur der weise Mönch kann
sie deuten.«
Anschließend führte Nahla ihn in
einen rückwärtigen Bereich des Tempels. Der dort im Schneidersitz wartende Mönch
begrüßte sie mit einem weisen Lächeln und verbeugte sich vor ihnen. Nahla
erwiderte den Gruß ehrerbietig und ging vor ihm auf die Knie.
Sébastien folgte ihrem Beispiel
und lauschte danach den Worten des weisen Mönches, die es nicht verstand. Er
konnte sich nur noch erinnern, das Nahla die Nummer 67 gezogen hatte und er
selber die Nummer 35. Als Erstes las der Mönch ihre Prophezeiung laut vor.
»Er sagt«, übersetzte Nahla ihm
leise, »dass ich heilende Hände habe, die von Buddha geleitet werden, der seine
beschützende Kraft über mich gelegt hat.«
Dann nahm der Mönch das
Holzstäbchen mit der Nummer 35 in seine knochigen Hände. Nach einigen Minuten
des Schweigens fühlte Sébastien plötzlich die Augen des alten, weisen Mannes auf
sich gerichtet. Seine Stimme vermischte sich mit dem Knistern der heiligen
Flamme. Keuchend hielt Nahla die Luft an.
»Und? Was sagt das Orakel über
meine Zukunft?«, fragte er neben ihr kniend amüsiert. Fieberhaft blickte sie zu
dem weisen Mann und suchte nach einer Notlüge. »Ach, nur den üblichen Spruch,
dass du reich und berühmt wirst. Komm, lass uns wieder nach draußen gehen.«
Hastig stand sie auf, zog ihn mit
sich hoch und verabschiedete sich ehrerbietig.
Auf der Straße wurden sie von
einer Horde Kinder eingekreist. Sébastien stand dicht neben ihr und ihm stieg
wieder ihr betörender Duftmix aus Orangen und Jasmin in die Nase. Und noch etwas
anderes – entsetzlich Stinkendes.
»Was zum Teufel ist das für ein
bestialischer Gestank«, rief er ihr über die lärmenden Köpfe der Kinder zu.
Nahla kicherte verschmitzt.
»Benzin«, erklärte sie ihm.
Entsetzt sah er sie an und sah sich im Geiste schon als menschliche Fackel über
den Strand rennen.
»Was?«
»Sieh her, das ist das, was du
riechst.« Sie zeigte auf mehrere Kinder, die an einer Kette ein brennendes Stück
Stoff hin- und herschwangen. Das dürfen die Kinder nur in dieser einen Nacht.
Mit dem Feuer spielen. Bei uns heißt das Twirlen.
Ein etwa siebenjähriger Junge
zupfte an Sébastiens Hose. Er beugte sich zu ihm hinunter und wurde mit einem
Wortschwall eingedeckt, von dem er nicht einen Ton verstand. Nahla kniete sich
neben sie und übersetzte für ihn.
»Das ist Sami.
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