Tränen der Lilie - Die Kristallinsel (Dreamtime-Saga) (German Edition)
goss sich einen Kaffee ein. Sébastien sah grübelnd aus dem Fenster und fragte
sich frustriert, warum ihn ausgerechnet jetzt seine Gabe im Stich ließ.
Normalerweise war er mit seinen telepathischen Fähigkeiten immer in der Lage,
alle Visionen zu erfassen und dann den Sinn darin zu verstehen. Doch seitdem er
auf dieser Insel war, waren seine Visionen aus irgendeinem Grund nur abgehackt
und verschwommen zugänglich.
Mal sah er eine Vergewaltigung,
dann wieder drangen Bruchstücke in sein Bewusstsein, die er nicht einordnen
konnte. Und immer wieder sah er vor seinen inneren Augen einen blauen
Motorradhelm.
Die angespannte Stille wurde
durch das schrille Klingeln des Telefons unterbrochen und alle fuhren
erschrocken zusammen. Malee nahm ab. Nach einem kurzen Nicken reichte sie den
Hörer an Milton weiter. »Für Sie.«
Fragend zog dieser die
Augenbrauen hoch und griff nach dem Telefon. Aufmerksam hörte er zu und machte
sich einige Notizen.
»Bei dem Datum, sind Sie sich da
auch ganz sicher?« Nach einigen weiteren Minuten des Zuhörens wusste er
anscheinend genug. »Gut, wir werden der Sache nachgehen. Vielen Dank für den
Anruf.« Dann legte er auf und sah nachdenklich hoch. »Das war Nahla«, berichtete
er und Sébastien drehte sich ruckartig zu ihm um.
»Was … warum zum Teufel wollte
sie nicht mit mir sprechen?« Etwas hilflos zuckte Milton mit den Achseln.
»Das, denke ich, solltest du sie
lieber selber fragen. Sie hat mir nur berichtet, dass sie heute Nacht eine
Vision hatte. Darin hat sie einen Mann gesehen, der ein Neugeborenes an die Wand
schlug und eine schreiende Frau. Danach erschien ihr in diesem Traum zum ersten
Mal ganz deutlich ein Datum. Es war der 30.10.2010. Als Nahla danach schreiend
aus dieser Vision aufwachte, war sie schweißgebadet. Was ihr aber am meisten
Angst machte, sagte sie, war, dass ihr ganzes Schlafzimmer penetrant nach
Meeresalgen gerochen habe. Auch sei Coco ganz aufgeregt gewesen und wollte
überhaupt nicht mehr von ihrem Arm herunter. Daraufhin ist sie mit dem Äffchen
quer durch das Haus spaziert, um es ein wenig zu beruhigen. Als sie bei ihrer
Wanderung in das Wohnzimmer kam, spürte sie auf einmal eine Veränderung darin.
Es war nicht viel, aber sie sah, dass etwas verschoben und berührt war.
Irgendjemand war in diesem Raum gewesen. Und auch das Wohnzimmer riecht nach den
Meeresalgen.«
»Auf dieser ganzen Insel riecht
es nach Algen und Meer,« bemerkte Calda spitz. »Das bedeutet rein gar nichts und
hilft uns auch nicht weiter.«
Sie saß in einem Sessel, im
hinteren Ende des Büros. Weit entfernt von Sébastien. Immer noch sauer wegen
ihres gestrigen Zusammenstoßes. Sie versuchte ihre Enttäuschung jedoch geschickt
zu verbergen. Scheinbar selbstbewusst spielte sie mit ihren blonden Locken. Im
dem Schweigen, das daraufhin folgte, hörte sie einen erstickten Laut, der aus
Sébastiens Kehle kam.
Calda sah hoch und schielte
vorsichtig zu ihm hinüber. Bei seinem verzweifelten Gesicht durchfuhr sie ein
Stich. Noch niemals zuvor hatte sie ihn so gesehen. Plötzlich erkannte sie, dass
sie verloren hatte.
Gequält legte Sébastien seine
Stirn an die Fensterscheibe. Er hatte es vermasselt. Nahla wollte also nichts
mehr mit ihm zu tun haben. Verzweifelt verschränkte er die Hände über seinen
Kopf. Eigentlich sollte er froh sein, dass es vorbei war. Warum störte ihn also
die Tatsache so sehr? Doch mittendrin spannte sich auf einmal sein Körper an. Es
war, als wenn Nahlas Visionen in sein Bewusstsein eindrangen. Ohne Mühe konnte
er ihre Traumbilder der letzten Nacht lesen.
Aber wie war das möglich, fragte
er sich überrascht. Sie war nicht seine Gefährtin und hatte offensichtlich auch
niemals vor, es zu werden. Selbst wenn er das zugelassen hätte. Dennoch wurde er
von Nahlas Emotionen überrollt und konnte ihre Gedanken in sich spüren. Mit zwei
langen Schritten glitt er zum Schreibtisch und sah Malee mit glühenden Augen an.
»Kontrollieren Sie sofort die
Einträge vom 30.10.2010 - in sämtlichen Anwesenheitslisten. Und stellen Sie mir
umgehend eine Verbindung nach Bangkok her«, ordnete er an. Jetzt war er voll
konzentriert und hatte zu seiner gewohnten Autorität zurückgefunden.
Nachdem er mit Michael
telefoniert und der ihm versprochen hatte, seinem Hinweis umgehend
nachzuforschen, begann das lange Warten. Als Michael ihn eine halbe Stunde
später zurückrief und alles bestätigte, war Sébastien sich
Weitere Kostenlose Bücher