Tränen der Lilie - Hüter der Gezeiten (Bianca Balcaen: Geisterkrieger-Serie) (German Edition)
Wärme
aus. Seine
Lippen waren nicht mehr als ein Strich in seinem unterkühlten
Gesicht. Sie begann
zu frösteln.
»Schade«, sagte er und fixierte dabei ihren Oberkörper.
»Aber wir
werden ab jetzt sicherlich noch oft miteinander zu tun haben.
Wir werden uns
wiedersehen .«
Es klang wie eine Drohung.
»Ja, ja das wäre schön«, hörte Amy sich sagen und
rannte dann beinahe
aus dem Zimmer.
Professor Wilson machte wie jeden Tag seinen
morgendlichen Rundgang
zur Visite. Im Schlepptau sieben der angehenden neuen
Assistenzärzte.
Alle zusammen betraten sie das erste Krankenzimmer und
blieben vor dem
Bett einer Frau mittleren Alters stehen.
Der Professor blickte die vor ihm Stehenden an und
stellte dann die
altbekannte, morgendliche Frage: »So meine Damen und Herren, wer
möchte mir
heute Morgen zuerst, eine zutreffende Diagnose zu diesem Fall
geben?
Die Patientin ist 39 Jahre und hat folgende Symptome:
Schmerzen im
Bereich des Bauchnabels, im rechten Unterbauch, mit Fieber,
Übelkeit und
erbrechen .«
Robert Drake kam wie immer als erstes selbstbewusst aus
der Gruppe
hervor und begann mit den Standarduntersuchungen. Nicht einmal
fünf Minuten
später blickte er leicht gelangweilt über so einen simplen
Testpatienten auf.
»Es ist der Blinddarm, Appendizitis .«
Der Professor sah ihn an: »Sind sie sich da ganz sicher
Robert ?«
»Ja Professor, hundertprozentig.«
»Erklären sie mir und uns allen wie sich ihre Meinung
zusammensetzt ?«
»Natürlich, ich habe es am Lanz–Punkt erkannt .«
»So«, sagte Wilson-interessant, »erklären sie mir das
näher. Wie gehen
sie bei diesem Test vor ?« Jetzt war
Robert ganz in
seinem Element und setzte großspurig zu seinen Erläuterungen an:
»Es ist eine
besondere Art der Schmerzen.
Zum Beispiel, wenn ein Druck, auf dem sogenannten
Lanz–Punkt ausgeübt
wird. Dazu denkt man sich eine gedachte Verbindungslinie,
zwischen dem linken
und dem rechten, durch die Haut tastbaren und vorderen
Knochenvorsprung des
Darmbeins. Der Lanz–Punkt liegt dort, wo das mittlere und äußere
Drittel
aufeinanderstoßen.
Der anschließende Druckschmerz der Frau hat meine
Diagnose zu hundert
Prozent bestätigt«, beifallsheischend suchte er die Blicke der
Gruppe.
Wilson
blickte in die anderen Augenpaare.
»Noch
jemand in dieser Runde, derselben Meinung?«
Alle anderen kamen nun nach und nach vor, begannen mit
ihren
Untersuchungen und kamen danach alle zu demselben Schluss. Sie
stimmten Roberts
Diagnose zu. Alle, bis auf Amy die sich bis jetzt wie immer
dezent im
Hintergrund gehalten hatte. Sie liebte diese allmorgendlichen
Visiten.
Es waren jedes Mal ausgewählte, neue Patienten. Die ihr
Einverständnis
gegeben - und nichts dagegen einzuwenden hatten - von einer
Heerschar von mindestens
sieben Assistenzärzten immer wieder untersucht zu werden.
Bis der Professor dann irgendwann zum Schluss die
richtige Diagnose
bekannt gab.
Das bedeutete für den Patienten im Klartext sieben Mal
abgetastet zu
werden. Abgehört, in die Pupillen geschaut, das Otoskop falsch
in die Ohren
gequetscht zu bekommen und die Zunge fast taub, weil sie den
Spatel zu lange in
den Mund gepresst hatten.
Und dann zum Schluss mit viel Glück, drei verschiedene
Diagnosen zu
hören bekamen.
Die 79 jährige Alison Skinner grunzte amüsiert in sich
hinein und
zwinkerte dem Professor unauffällig zu. Sie lag im Nachbarbett
und war die
nächste Patientin.
Da sie an einer chronischen Krankheit litt, kam sie
alle drei Monate
zu Kontrolluntersuchungen für ein paar Tage in die Klinik. Das
gesamte
Pflegepersonal einschließlich der Ärzte und Professor Wilson
liebten sie.
Trotz ihrer teilweise starken Schmerzen ließ sich die
alte Dame nicht unterkriegen.
Fast immer war sie guter Laune und zu Späßen aufgelegt. Sie
hatte schon viele
Medizinstudenten kommen und gehen sehen und musste sie sich so
manches Mal ein
Lachen verkneifen wenn wieder einmal keiner dieser jungen
Möchtegernärzte die
richtige Diagnose zu stellen vermochte.
Alison beschloss, dass es sich lohnte noch mindestens
ein paar Jahre
weiterzuleben.
Diese morgendlichen Visiten amüsierten sie köstlich und
machten so
ihren einsamen Lebensabend etwas erträglicher. Leise kicherte
sie vor sich hin
aber noch war sie nicht an der Reihe.
Die Gruppe stand noch immer
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