Tränen der Lilie - Seelen aus Eis (Bianca Balcaen: Geisterkrieger-Serie) (German Edition)
es war, atmete sie aus und begriff unvermittelt, was gerade eben
geschehen war. Die schlaksige, jungenhafte Gestalt, die jetzt
langsam auf sie zukam, machte einen zerknirschten Eindruck.
»Wenn du noch
lange so da sitzt, wirst du dich erkälten. Nimm deine Arme aus
dem Wasser«, sagte er leise und reichte ihr die Hand, um ihr
hoch zu helfen.
Sie starrte Ben
mit weitaufgerissenen Augen an. Er stöhnte leicht auf, half ihr
hoch, nahm dann ihre Hand in die seine und zog sie resolut
hinter sich her. Rebecca ließ es stumm mit sich geschehen. Sie
war immer noch wie geplättet. Als sie den Tempel erreichten,
öffnete er die Tür und schob sie sanft rein. Prüfend sah er sie
an und bemerkte, dass sie vor Kälte mit den Zähnen klapperte.
Ihre Arme hingen schlaff an ihrem Körper herunter und aus den
Jackenärmeln begann das Wasser jetzt langsam auf den Fussboden
zu tropfen und eine Pfütze zu bilden. Besorgt ging er zum
Wandschrank und begann die Schubladen zu durchwühlen, bis er
pfündig wurde.
»Hier, zieh das
an«, mit diesen Worten drückte er ihr einen blauen Fleecepulli
in die Hand.
Entgeistert sah
sie ihn an und blickte sich danach um. Es schien nur diesen
einzigen riesengroßen Raum zu geben, denn sie sah keine weitere
Tür. Also, wo um Himmelswillen sollte sie sich seiner Meinung
nach, umziehen? Ben sah zu ihr rüber und erfasste ihr Problem.
»Rebecca, zieh
endlich die nassen Sachen aus, bevor du komplett durchgeweicht
bist«, brummte er. Dann drehte er sich demonstrativ um und
verschränkte die Arme. Hastig begann sie, ihre triefende
Trainingsjacke und ihr T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Danach
schlüpfte sie in seinen flauschigen Pulli und versank fast
darin. Sie musste die Ärmel dreimal umkrempeln, bevor sie ihre
Hände wiederfand.
»Du kannst dich
jetzt wieder umdrehen«, murmelte sie verlegen.
»Was ist das für
ein Gebäude, gibt es nur dieses eine Zimmer?«, fragte sie
schüchtern und sah sich dabei um.
Der Raum glich
mehr einem großen Saal, war aber trotzdem nur sehr spärlich
möbliert. An der linken Wand stand ein massiver Einbauschrank
und daneben befand sich eine kleine, abgetrennte Küchenzeile.
Unter der südlichen Fensterfront hingen lange Holzregale, auf
denen unzählige Kerzen und Räucherstäbchen standen. In der
gegenüberliegenden Ecke erblickte Rebecca einen imposanten
massiven Kachelofen, der eine wollige Wärme verströmte. Und
davor erstreckte sich eine breite, zum kuscheln einladende
Ruhelandschaft, die mit einer flauschigen Felldecke und
unzähligen farbenfrohen Kissen bedeckt war. Ben kam auf sie zu,
nahm ihr die nassen Sachen aus der Hand und legte sie danach auf
dem Sims des Kachelofens, bevor er antwortete.
»Das hier ist
unser heiliger indianischer Ruhetempel. Mein Vater hat ihn vor
vielen Jahren nach seinen eigenen Ideen entworfen und zum Teil
auch mit gebaut. Der Tempel ist schalldicht. Hierher kann sich
jeder aus unserer Familie zurückziehen. Zum Träumen oder um
abzuschalten. Dad kommt oft hierher, wenn er seine Visionen
erhält.
»Kann eigentlich
jeder von euch Visionen empfangen«, fragte Rebecca neugierig.
Ben antwortete nicht sofort. Zögernd sah er sie an. Dann
entschloss er sich, dass es wohl in Ordnung war, es ihr zu
erzählen.
»Nein, jeder von
uns hat andere Sinnesorgane, die im Gegensatz zu den normalen
Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt sind. Möchtest du
auch einen Becher Tee?«, fragte er und begab sich in die kleine
Küche.
»Ja gerne, dann
taue ich vielleicht wieder ein bisschen auf.«
Er murmelte
irgendetwas Unverständliches und setzte den Wasserkocher auf.
Dann lehnte er sich an den Küchentresen, verschränkte die Arme
vor der Brust und begann das Gespräch wieder aufzunehmen.
»Mahu ist die
Seherin in unserer Familie. Sie kann Geschehnisse sehr weit im
Voraus erfassen und sie hat auch ein untrügliches Gespür für die
inneren Gefühle der Menschen. Das hat Michael von ihr geerbt.
Aber er sieht in seinen Visionen mehr die Dinge, die in
unmittelbarem und nahem Abstand stattfinden. Frank hat weniger
Visionen, aber dafür ist sein Gehör zehnmal besser, als das
einer Eule. Er hört die Feinde, die sich anschleichen, auch wenn
sie noch Kilometer weit entfernt sind. Taylor hat die intuitive
Gabe, die Reaktionen eines Kämpfers schon im Voraus zu erahnen.
Damit ist er seinen Gegnern dann immer
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