Tränen der Lilie - Seelen aus Eis (Bianca Balcaen: Geisterkrieger-Serie) (German Edition)
was wir erfahren haben.«
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Michael beugte
sich über sie. Amy war vollkommen erschöpft in seinem Bett
eingeschlafen.
Vorsichtig zog er
die Decke fester um sie und strich zärtlich über ihr Gesicht.
Danach verließ Michael leise das Zimmer und ging den hellen Flur
entlang, der von mehreren Wandleuchten erhellt wurde, bis er vor
der letzten Tür im Gang zum stehen kam. Er zögerte einige
Sekunden, doch dann drückte er energisch die Klinke runter.
Michael wusste, dass sie übers Wochenende zu ihren Eltern
gereist war und er war sich sicher, dass sie ihm sein Eindringen
in ihr Reich nicht übel nehmen würde.
Nachdem er die
Stehlampe angeknipst hatte, durchquerte er langsam das Zimmer,
bis er vor dem Schreibtisch stehenblieb.
Andächtig nahm er
den einzigen Bilderrahmen darauf in die Hand.
Wehmütig
betrachtete er das Foto und blickte in die lachenden und grauen
Augen von Lanu. Der einzige Bruder von Suletu und sein einstmals
bester Freund. Bedrückt starrte er das Foto an und
versuchte verzweifelt einen Zusammenhang zu finden. Wie war es
möglich, dass Amy ihn in ihrer Trance gesehen hatte?
Mitten in seine
Gedanken erwachte plötzlich eine Vision, die so heftig und
unvorhergesehen kam, das er sich setzten musste. Die Bilder
drangen mit der Wucht eines Holzhammers in seine Gedanken ein.
Und was sie zeigten, ließ ihn erschauern.
Michael wurde mit
hinein gerissen in einen Strudel der Finsternis und des Bösen.
Es war, als ob Lanu es ganz bewusst darauf anlegte, ihm die
Abgründe seiner Seele zu offenbaren und Michael ganz bewusst
teilhaben ließ an den Ereignissen, die jetzt wie ein Film vor
Michaels Augen abliefen.
Lanu lag am Boden
seines Verlieses. Alle seine Gefühlsregungen konnte Michael mit
seinem eigenen Körper spüren und Lanu schien ihm dabei direkt
ins Herz zu blicken. Es war eine überdimensionale Telepathie.
»Weißt du noch,
das wir uns geschworen haben auf immer Freunde zu sein«,
flüsterte er und Michael nickte unbewusst. »Aber das bist du
nicht mehr, denn du hast mich im Stich gelassen«, rief Lanu
böse. Strauchelnd stand er vom Fussboden auf und ging zu dem
kleinen Fenster rüber. Erregt rieb er sich mit beiden Händen
heftig übers Gesicht, aber seine Gedanken schienen davon nicht
klarer zu werden.
»Warum konnte ich
niemals so perfekt sein wie du? Du warst immer der
Erfolgreichere von uns. Immer von allen geliebt immer alle
Prüfungen der vier Welten als Erster bestanden. Ich bin immer
nur in deinem Schatten hinterher gestolpert. Immer nur von dem
Wunsch beseelt, besser zu sein. Aber an dich konnte ich niemals
herankommen.«
Orientierungslos
begann Lanu in der Grotte auf und ab zu laufen und hatte
sichtlich Mühe seine Gedanken zu ordnen.
»Ich dachte
wirklich, Cassandra würde mich um meiner selbst willen lieben,
aber sie hat mich auch nur benutzt. Warum zum Teufel hast du
mich nicht gewarnt«, schrie er hysterisch auf und schien Michael
dabei genau in die Augen zu starren.
»Aber das habe ich
doch, mein Bruder. Ich habe dich mehr als hundert Mal gewarnt«,
flüsterte Michael.
Doch seine
Gedanken erreichten Lanu nicht mehr, denn dieser begann nun
wieder unruhig hin und her zu laufen. Dann ließ er sich abrupt
auf den Boden fallen und brach unvermittelt in schallendes
Gelächter aus.
»Ja, sieh dir das
Spektakel hier genau an. Denn schon bald - heute Nacht noch -
bin ich hier weg. Er hat es mir versprochen.«
Michael hatte
seine Worte wie elektrisiert vernommen.
»Wer…, wer kommt
dich heute Nacht holen, Lanu?«, fragte er alarmiert.
Dieser starrte
ohne ihn zu antworten, an die Decke und begann auf einmal ganz
leise ein indianisches Wiegenlied zu summen.
»Ja, wenn ich brav
bin, dann befreit er mich. Er hat als einziger meine
Seelenqualen gefühlt, denn er hat ein gutes Gespür dafür,
verwirrte und schon halbwegs böse Seelen zu riechen«, kicherte
er.
Im nächsten Moment
kippte Lanu Stimmung um. Er schlug mit der Faust gegen die Mauer
und brabbelte jetzt nur noch in abgehackten Sätzen vor sich hin.
Michael merkte, wie er sich immer mehr von ihm und seinen
Gedanken entfernte.
»Ab dieser Nacht
werde ich kein armseliger Hüter der Lilien mehr sein… keine
verdammten Seelen mehr retten… weil ich selber bald keine mehr
haben werde. In der neuen Welt werde ich die Nummer Eins sein.
Ruhm und Anerkennung bekommen und
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