Tränen der Lilie - Seelen aus Eis (Bianca Balcaen: Geisterkrieger-Serie) (German Edition)
und sahen ihm nach, wie er seinen
langen Mantel um sich schlang und in der Dunkelheit der Nacht
verschwand.
Als Loraine wieder
zu sich kam, war sie nicht mehr die, die sie einmal war…
Heimlicher Besuch
J etzt
oder nie, dachte Amy.
Sie rutschte auf
die vorderste Bettkante vor und probierte vorsichtig
aufzustehen. Leicht wackelig ging sie danach zum
gegenüberliegenden Wandschrank und zog ihren meergrünen
Morgenmantel vom Bügel. Die dünne Seide raschelte, als sie
reinschlüpfte.
Schon diese kleine
Anstrengung löste ein Schwindelgefühl aus und schnell stützte
sie sich an der Wand ab. Trotzdem biss sie die Zähne zusammen
und fixierte die gegenüberliegende Tür in zwei Metern
Entfernung. In ihrem Zustand eine fast unüberwindbare Distanz.
Zögernd setzte sie einen Schritt vor den anderen, ohne die Hand
von der stützenden Mauer zu nehmen. Wenn ich das ganz alleine
schaffe, dann sehe ich endlich einen Fortschritt, dachte sie und
schluckte schwer. Es war seit drei Wochen das erste Mal, dass
sie für einen Augenblick alleine war.
Ohne dass
andauernd irgendjemand um sie rumwuselte und dabei immer alle
ihre Bewegungen oder Zuckungen an ihrem Körper mit Argusaugen
beobachtete. Angespannt blickte Amy auf ihre Armbanduhr.
Vierzehn Uhr.
Jetzt waren alle
Ärzte und Schwestern im Stationszimmer versammelt, um die
morgendliche Visite auszuwerten. Das Mittagessen war abgeräumt
und die Besuchszeit begann erst um drei Uhr. Unternehmungslustig
sprach sie sich selber Mut zu.
Eine Stunde sollte
reichen, um von der ersten Etage in die dritte zu gelangen.
Leise öffnete sie
die Tür.
Niemand war weit
und breit auf dem langen Flur zu sehen. Mit beiden Händen an der
Wand schlich sie haltesuchend den fünf Meter langen Korridors
entlang, bis sie die Glastür zum Treppenhaus erreicht hatte.
Schon seit zwei
Tagen hatte sie sich ihre Strategie ausgearbeitet. Darum nahm
sie auch absichtlich nicht den Aufzug, denn die Gefahr dort
entdeckt zu werden, war viel zu groß. Die Tür knackte ins
Schloss und Amy starrte entgeistert auf die unzähligen
Treppenstufen.
Doch schließlich
siegte ihre Abenteuerlust. Fest umklammerte sie das Geländer,
bis ihre Handknöchel weiß hervortraten, setzte dabei zaghaft den
linken Fuß auf den ersten Absatz und zog dann bedächtig das
zweite Bein nach. Stufe für Stufe kämpfte sie sich vor. Als sie
endlich das zweite Stockwerk erreicht hatte, blieb sie stöhnend
stehen und ihr Atem ging stoßweise. Sie spürte wie ihr der
Schweiß aus allen Poren ausbrach und im Rücken in einem dünnen
Rinnsal wieder hinunterlief.
Oh nein, so kurz
vor dem Ziel nicht schlappmachen, flüsterte sie sich selber Mut
zu. Es war ihr von Anfang an klargewesen, dass ihr Kreislauf
nach so langem Liegen rebellieren würde. Wie durch eine
Nebelwand sah sie die Stufen vor sich verschwimmen und schwarze
Punkte begannen vor ihren Augen zu tanzen. Das Zeichen einer
drohenden Ohnmacht.
Verzweifelt
schloss sie die Augen und konzentrierte sich darauf, tief ein
und aus zu atmen.
Langsam griff sie
in die Tasche ihres Morgenmantels, zog ein Stück Traubenzucker
heraus und schob es in den Mund.
Nach einigen
Minuten flaute die die Übelkeit ein wenig ab. Neuen Mutes
blickte sie auf die restlichen fünfzig Stufen und holte noch
einmal tief Luft.
Achtundvierzig…
neunundvierzig… fünfzig….
Mein Gott, ich
habe es tatsächlich geschafft, flüsterte sie andächtig.
Halleluja. Genauso musste sich Edmund Hillary bei seinem
Aufstieg zum Mount Everest gefühlt haben, davon war sie fest
überzeugt.
Ihr Schnaufen
ähnelte jetzt stark dem eines Arbeitspferdes beim Pflügen eines
trockenen Ackerlandes. Aber sie strahlte mit neugewonnenen
Selbstvertrauen über das ganze Gesicht. Schleppend schlurfte sie
die letzten Meter weiter und blieb vor der Tür Nr.34 stehen.
****
Nachdem sie auf
ihr zaghaftes Anklopfen keine Antwort bekam, drückte sie leise
die Klinke runter. Ihr Blick glitt zu dem einzigen Bett in dem
Krankenzimmer. Darin lag eine kleine und zierliche Person mit
einem unendlich traurigen Gesichtsausdruck, die sich jetzt
ruckartig aus den Kissen erhob und erschrocken auf die geöffnete
Tür starrte. Als sie Amy erkannte, begann sie zu strahlen und
winkte sie ins Krankenzimmer. Amy kicherte verschwörerisch,
betrat das Zimmer und setzte sich stöhnend auf
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