Tränen des Mondes
einen besonderen Menschen in den Himmel zu holen. Er weiß, daß wir beide stark und tapfer sein werden. Außerdem haben wir Kapitän Tyndall und Minnie und Ahmed und all die anderen, die sich um uns kümmern, und eines Tages werden wir drei wieder zusammensein.«
Hamish weinte immer noch. »Ich will meinen Daddy …«
Olivia drückte den Jungen noch fester an sich und flüsterte mit tränenerstickter Stimme: »Ich auch, mein Schatz …« Nach einer kleinen Weile wischte sie sich und ihrem Sohn die Tränen ab.
Als Hamish das schmerzerfüllte Gesicht seiner Mutter sah, nahm er ihre Hand, und so gingen sie traurig Seite an Seite nach Hause.
Zwei Perlenarbeiter, die zur Frühschicht gingen, hatten den kleinen Trauerzug beobachtet. »Die nimmt das nächste Schiff in die Heimat, kannste wetten«, meinte der eine. »Wird ihren Anteil an Tyndall verkaufen, bin ich sicher.«
»Die ist nicht so eine, Kumpel. Hast doch gehört, daß sie in den Schuppen mit anpackt und den Arbeitern auch mal Essen bringt. Sowas hat's noch nicht gegeben! Trotzdem, dieser Ort hier is nix für 'ne Witwe wie sie mit 'nem Kind.«
Während der nächsten zwei Wochen rührte Olivia sich kaum aus ihrem Schlafzimmer. Die geschlossenen Fensterläden schirmten sie von der Außenwelt ab. In der dämmrigen Stille ihres Zimmers versuchte Olivia, sich mit der Tragödie abzufinden, die ihr Leben zerstört hatte. Besucher wurden abgewiesen. Allein Minnie hatte Zutritt. Sie watschelte mit dem Essen herein, das Olivia kaum anrührte. In regelmäßigen Abständen wurde Hamish zu ihr gebracht und durfte eine Weile bei ihr sitzen. Er verstand nicht, was mit seinem Vater geschehen war und warum ihr Leben nun anders verlief.
In dieser schwierigen Zeit kam für den Jungen die schönste Stunde des Tages, wenn bei Sonnenuntergang Tyndalls vertraute Gestalt mit Maya auf dem Arm durch das Gartentor trat. Tyndall setzte sich dann auf die Veranda und ließ Olivia durch Minnie bitten, sich doch zu ihnen zu gesellen. Olivia lehnte jedesmal ab, und so trank er seinen Whisky, wie er es früher mit Conrad zu tun pflegte, und sah Hamish zu, wie er mit dem Baby spielte.
Eines Abends schließlich knallte Tyndall sein leeres Glas auf den Tisch, ließ die Kinder in Minnies Obhut und stürmte ins Haus. Er klopfte an Olivias Tür.
»Es wird Zeit, Olivia. Zeit, daß Sie herauskommen.«
Drinnen rührte sich nichts, aber er wußte, daß sie lauschte.
Er hämmerte an die Tür. »Olivia!«
»Lassen Sie mich in Frieden, John.«
»Nein, das werde ich nicht. Es wird Zeit, daß Sie aus Ihrer Abgeschiedenheit herauskommen und Ihr Leben wieder in die Hand nehmen. Hamish zuliebe. Conrad zuliebe. Er fehlt mir auch, Olivia.«
Er hörte ein unterdrücktes Schluchzen.
»Verdammt noch mal. Ich rede nicht durch die Tür. Ich komme jetzt rein.«
»Nein! Bitte, gehen Sie!« rief Olivia mit müder, erstickter Stimme.
Tyndall riß die Tür auf und blinzelte von der Schwelle aus in das Halbdunkel. »Du meine Güte, wie können Sie nur?« Mit einem Schritt war er bei den Fensterläden, die nur spärliches Licht durchließen.
»Bitte, lassen Sie mich in Ruhe«, flehte Olivia mit brüchiger Stimme.
»Werfen Sie doch etwas nach mir, wenn Sie wollen.« Tyndall stieß die Läden auf, und das letzte Licht des Tages brach in das Zimmer ein, begleitet vom Duft tropischer Pflanzen und dem fröhlichen Gequietsche von Hamish und Maya. Tyndall wandte sich zu Olivia um.
Sie saß in einen Lehnstuhl gekauert, eine Baumwolldecke über die Schultern gezogen. Das offene Haar hing ihr stumpf und strähnig auf den Rücken, ihr Gesicht sah blaß und verhärmt aus.
Tyndall tat so, als ob er ihren Zustand nicht bemerkte. »Olivia«, begann er mit entschlossener Stimme. »Ich erwarte Sie morgen früh im Büro. Es gibt eine Unmenge Schreibarbeiten zu erledigen, und Sie werden Conrads administrative Aufgaben übernehmen. Das wächst mir allmählich über den Kopf. Sieht aus, als ob ein Wirbelsturm durchgebraust wäre. Außerdem müssen wir die kommende Saison planen. Ich habe vor, nach Norden zu segeln.«
Tyndalls Ausbruch zeigte die erhoffte Wirkung, insbesondere die radikale Ankündigung, nach Norden zu segeln. Tyndalls Logger fuhren gewöhnlich gen Süden.
»Wieso nach Norden?« wollte Olivia wissen.
Tyndall fiel ein Stein vom Herzen. Er wußte, daß er bei Olivia etwas in Gang gesetzt hatte. Sie würde weiterhin trauern, gewiß, aber jedenfalls würde sie sich in ihrem Schmerz nicht mehr abschotten.
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