Tränen des Mondes
dem grünen Dschungel ab, der sich tief unter ihnen ausbreitete.
Olivia nickte und folgte Tyndall mit klopfendem Herzen. Sie schluckte heftig und achtete auf nichts weiter als auf den Boden, auf den sie ihre Füße setzte.
Sie betraten die größte Höhle, die in der Mitte lag, und fanden sich in einer Art Vorkammer, von der schmalere Gänge abzweigten. Tyndall nahm Olivia an der Hand, und sie gingen gebückt einen kurzen Gang entlang, der in eine im Inneren gelegene Höhle mündete. Es war ziemlich dunkel, doch kaum hatten sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt, als Olivia einen Schrei ausstieß und einen Satz nach hinten machte. Vor ihnen lagen ganze Skelette und in einer bestimmten Ordnung aufgereihte menschliche Knochen. Schädel starrten ihnen aus augenlosen Höhlen entgegen, gefletschte Zähne schienen sie anzuknurren.
»Iii! Wie gruselig. Was ist das hier?« flüsterte sie.
»Eine Grabhöhle der Aborigines. He, schau dir das mal an.« Er schlich weiter.
»Rühr nichts an. Das könnte Pech bringen.«
»Keine Angst. Ich möchte nur einen Blick aus der Nähe darauf werfen.« Er deutete auf ein paar Knochen. »Dieser Bursche hat seine Lieblingssachen mitgenommen.«
Olivia sah zwischen den Knochen einen großen Brustschild aus Perlmutt. »Glaubst du, daß der aus dieser Gegend kommt?«
»Kann gut sein.«
»Gehen wir. Dieser Ort macht mir Angst.«
Sie kehrten um und stiegen das letzte Stück zum Plateau hinauf. Weit unten sahen sie einen kleinen, sich bewegenden Fleck: eins der beiden Dinghis, das zum Schoner zurückgerudert wurde.
»Vielleicht segeln sie davon und lassen uns hier zurück«, meinte Olivia zum Spaß.
»Also wenn wir hier ausgesetzt würden, dann würden wir eben das Beste daraus machen.« Er grinste, nahm sie in die Arme und küßte sie. Sie liebten sich auf dem Gras, unter einem Affenbrotbaum auf dem Dach einer magischen Insel, und fühlten sich, als könnten sie die Wolken mit Händen greifen. Olivia lag nackt im hellen Tageslicht und gab sich ganz dem Streicheln des Windes, der Wärme der Sonne und dem Flüstern von Tyndalls Lippen hin.
Am nächsten Tag tauchte Tyndall an der Spitze der Insel zum ersten Mal auf den Meeresgrund. Als er nach einer Stunde wieder an die Oberfläche kam, schüttete er aus seinem Korb prächtige Perlmuscheln an Deck. Er sprudelte über vor Begeisterung. »Einfach großartig da unten. Olivia, das mußt du sehen! Du hast doch gesagt, du würdest auch gerne mal tauchen. Diese Stelle ist ideal dafür! Nur zwölf Faden tief und so schön! Du wirst begeistert sein.«
Mit seinem Überschwang wischte er ihren Anflug von Ängstlichkeit einfach weg. Olivia hatte die Welt unter Wasser schon immer kennenlernen wollen. Tyndall und Ahmed unterwiesen sie in allen Details, sie hatte den Tauchern ja schon oft genug zugesehen, um mit dem Vorgang vertraut zu sein. Außerdem konnte Tyndall sie begleiten, weil er die
Shamrock
mit zwei Handpumpen ausgerüstet hatte.
Das Gewicht des Taucheranzugs machte ihr Angst, und als sie durchs Wasser nach unten sank, hatte sie das Gefühl, sie könnte nie wieder nach oben steigen. Dann wurde ihr leicht schwindlig, als triebe sie davon, und sie merkte schnell, daß sie den Druck nachregulieren mußte.
Als sie sich wohl zu fühlen begann, stand Tyndall vor ihr und machte ihr mit der Hand ein Zeichen, sie solle sich umschauen. Nichts hatte Olivia auf die Wunder dieser geheimnisvoll stillen blauen und grünen Welt vorbereitet. Winzige bunte Fische flitzten zur Glasscheibe ihres Helms, guckten zu ihr herein und stoben in einer farbigen Wolke wieder davon. Der Unterwassergarten wiegte sich hin und her zur Musik des Meeres, die Olivia nur erahnen konnte. Korallen, die wie ein buntes Feuerwerk zu explodieren schienen, beherbergten mikroskopisch kleine Lebewesen und Fische. Tyndall deutete unter einen Korallenvorsprung, doch einen Augenblick lang konnte sie nichts erkennen. Dann machte sie zwei Augen aus und danach die fleischigen Lippen eines riesigen schwarzen Zackenbarschs, dessen Maul groß genug schien, um einen Taucherstiefel zu verschlingen. Wohin sie sich auch drehte, begegneten ihr unglaubliche Schönheit und faszinierende Erscheinungen. Erst war Olivia sich noch bewußt, daß Tyndall sie aufmerksam überwachte, doch als sie langsam durch die fesselnde Unterwasserwelt schritt, vergaß sie ihn und verlor jedes Gefühl für die Zeit.
Schließlich forderte Tyndall sie auf, ihm zu folgen und führte sie zu einem Sandstreifen
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