Tränen des Mondes
dabei. Wir sollten im Hafenviertel anfangen. Dort streunen anscheinend viele Mädchen herum.«
»Gut für Sie, Gilbert.«
Es dauerte Wochen, doch durch die Kirchen, die Krankenhäuser, die Polizei, die Gespräche an den Hintertüren billiger Speiselokale, wo die Obdachlosen oft etwas zu essen bekamen, und durch die Hafenarbeiter, die wußten, wo Mädchen im Freien nächtigten, verbreitete sich schließlich die Nachricht, daß es
Shaw House
gab. Junge Mädchen tauchten auf, erhielten ärztliche Behandlung, Essen, Kleidung und Beratung. Manche wollten nur ein Bett für die Nacht und eine Mahlzeit, andere wurden zu den Barmherzigen Schwestern geschickt. In manchen Fällen versuchte Olivia, eine Stelle zu vermitteln, wenn die Mädchen einige Schulbildung hatten und gern arbeiten wollten.
Es war eine anstrengende, zuweilen enttäuschende und deprimierende, aber letzten Endes lohnende Arbeit, die Olivia von der Vergangenheit ablenkte. Sie nahm sich nur frei, wenn Hamish in den Ferien nach Hause kam. Er liebte seine Schule, spielte begeistert in allen Sportmannschaften wie auch in der Theatergruppe mit und freute sich schon auf die Weihnachtsferien, in denen er zu den Eltern eines Freundes auf deren Rinderfarm eingeladen war. Olivia war erleichtert, denn dann würde er nicht auf den Gedanken kommen, nach Broome fahren zu wollen. Seit Minnies Tochter Mollie bei Olivia ihren Dienst angetreten hatte, war sie einmal nach Broome zurückgekehrt und hatte berichtet, alles in Olivias Haus sei in bester Ordnung. Dort wohnten noch immer Minnie und Alf als Hausmeister in den Dienstbotenräumen.
Während
Shaw House
sich von einer düsteren, heruntergekommenen Pension zu einem fröhlichen Zufluchtsort mauserte, wo »Mädchen in Schwierigkeiten«, wie Gilbert es ausdrückte, mit offenen Armen empfangen wurden, verbrachten Olivia und Gilbert mehr Zeit miteinander denn je. Pläne, Renovierungsarbeiten, die Einrichtung und andere praktische Fragen wurden erörtert, die Arbeit geteilt. Wenn Hamish nach Hause kam, machte er tatkräftig mit, erledigte alle möglichen Arbeiten und nahm großen Anteil an dem Projekt. Die drei aßen gemeinsam und der kinderlose, verwitwete Gilbert genoß es, sich als Teil einer Familie fühlen zu können.
Auch Olivia freute sich, daß Gilbert und Hamish einander mochten. Der Junge brauchte eine Vaterfigur, und Gilbert Shaw gab vernünftige Ratschläge, interessierte sich für seine sportlichen Aktivitäten und diskutierte mit ihm über die Weltpolitik. Olivia bemerkte, wie sehr Hamish inzwischen seinem Vater ähnelte. Er besaß etwas von Conrads höflicher Zurückhaltung und seinen geschliffenen Manieren, doch daneben blitzte immer wieder ein spöttischer Humor auf, in dem sie Tyndall wiedererkannte. In diesen Momenten machte ihr Herz einen kleinen Sprung, und sie merkte, wie sehr sie Tyndalls Humor vermißte, auch wenn er sie damit manchmal zum Wahnsinn treiben konnte. Tyndalls praktische Art hatte Hamish gutgetan, ebenso ihr ausgesprochen gemischter Freundeskreis mit Leuten wie Ahmed und den Mettas, denn dadurch hatte der Junge eine ausgewogene Einstellung zu den Menschen und der Welt erworben. In einem seiner Briefe ließ Tyndall seine Hoffnung durchklingen, Hamish möge sich durch sein vornehmes Internat nicht in einen Snob verwandeln.
»Diese Gefahr besteht ganz und gar nicht – da hast du dich wieder mal geirrt, Tyndall«, dachte Olivia. Sie schrieb Tyndall nie über ihr Privatleben, wußte aber, daß Hamish Briefkontakt mit ihm hielt. Sie beschränkte ihre Korrespondenz strikt aufs Geschäftliche. Auch ihre Erinnerungen an Tyndall versuchte sie in Schach zu halten. Wenn sie sich Träumereien erlaubte und an die glücklichen Zeiten dachte, die sie miteinander erlebt hatten, an die erfüllte Zukunft, die sie sich an seiner Seite ausgemalt hatte, und sich dann an seinen Verrat und an Amy erinnerte, überwältigten sie Kummer und Schmerz. Wenn sie sich dagegen auf Trab hielt, sich ablenken ließ und auf Distanz ging, konnte sie sich vorstellen, irgendwann einmal über diese Tragödie ihres Lebens hinwegzukommen.
Immer wieder dankte sie ihrem Glücksstern, dem Schicksal oder der Vorsehung, die sie Gilbert Shaw hatten begegnen lassen. Er war verständnisvoll, behutsam und mitfühlend. In seinen Augen sah sie die Liebe wachsen, die ihr Wärme und Geborgenheit schenkte. Dank seiner Gegenwart litt sie nicht mehr unter dem Gefühl, sich allein durchs Leben schlagen zu müssen. Sie besaß immer noch die
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