Tränen des Mondes
Kraft, die ihr durch die dunklen Tage geholfen hatte, doch sie fühlte sich jetzt weicher, nachgiebiger. Sie brauchte nicht mehr so zu kämpfen, sie war nicht verlassen. Sie genoß es, jemand um sich zu haben, mit dem sie ihre Erfahrungen teilen und etwas unternehmen konnte. Berufliches mischte sich mit Privatem, und ihrer beider Leben begannen, auch wenn es nie ausgesprochen wurde, zu verschmelzen.
Gilbert war ein attraktiver Mann, schlank und körperlich in Form, auch wenn seine Haare nun ergrauten, seine Gesichtszüge verrieten einen Menschen von freundlichem Naturell, der für andere Menschen offen war. Er war umgänglich, ruhig und selbstsicher. Hätte Olivia davon gewußt, sie wäre überrascht gewesen, daß Gilbert in seinen Gefühlen für sie immer unsicherer wurde. Er hatte Angst, daß er im Vergleich zu dem Abenteurer Tyndall als Langweiler abschneiden könnte, daß er wie ihr Vater oder ihr Onkel aussähe, daß er keine sexuelle Leidenschaft in ihr wecken könnte. Verdeckt von seinen feinen Umgangsformen, seinem ruhigen Wesen und seinem freundlichen Lächeln, brodelte in ihm der Drang, sich stürmisch wie ein unbesonnener junger Mann zu gebärden. Olivias Energie, ihre Begeisterung und ihre Lebenskraft hatten Gefühle in ihm erregt, die er längst der Vergangenheit zugerechnet hatte. Er sehnte sich danach, ihr seine wahren Empfindungen zu zeigen und ihr zu beweisen, daß in seinem korrekten maßgeschneiderten Anzug ein männlicher junger Hitzkopf steckte, der genauso verwegen und ausgelassen war, wie er sich jenen Kapitän John Tyndall vorstellte.
Im Gegensatz zu dem Bild, das Gilbert sich von sich selbst machte, fand Olivia ihn attraktiv und anziehend. In seiner Ruhe sah sie Stärke und Rückhalt, in seiner Schüchternheit kultivierte Manieren und Behutsamkeit im Umgang mit anderen. In seinen Berührungen spürte sie Respekt und Bewunderung, was ihr Selbstgefühl stärkte. Sie harmonierten miteinander, bei ihm fühlte sie sich wohl und geborgen. Zwischen ihnen würde nie jene wilde Leidenschaft hochlodern, jene unerwarteten, überkochenden Gefühle, wie sie von der Hochspannung zwischen Tyndall und ihr erzeugt wurden. Doch Gilbert Shaw war zu einem Zeitpunkt in ihr Leben getreten, der für sie beide der richtige war.
Nach kürzester Zeit wachte Amy über Tyndall wie eine eifersüchtige Löwin. Sie verbannte die Dienstboten aus seinem Zimmer und blieb rund um die Uhr bei ihm. Nachts schlief sie auf der Chaiselongue am Fenster. Der Arzt hatte ein kleines Fläschchen Laudanum dagelassen, gegen die Schmerzen, die von Tyndalls Beingeschwüren ausgingen. Sie müsse sich streng an die Dosierung halten, schärfte der Arzt Amy ein. Auch jetzt noch fiel Tyndall immer wieder in Fieberzustände und wälzte sich in unruhigem Schlaf, wenn er nicht zusammenhanglos vor sich hin murmelte.
In den Stunden, in denen Amy in Tyndalls Zimmer saß, dachte sie ausgiebig über ihre Zukunft und ihre Möglichkeiten nach.
Ahmed kam täglich zu Besuch, und jedesmal verweigerte ihm Amy den Zutritt. Besorgt wandte er sich an Rosminah und bat sie herauszufinden, wie es um Tyndall wirklich stand. Sie erzählte ihm, daß Tyndalls Zimmer immer verschlossen war, und wenn Amy es verließ, um zur Toilette zu gehen oder sich zu waschen, sperrte sie hinter sich zu und nahm den Schlüssel mit. »Ich kann nicht zu Tuan. Er nicht sehr gut essen. Du holen Arzt, und er nach Tuan sehen«, flehte Rosminah.
Ahmed wurde immer besorgter. »Der Arzt ist nach Beagle Bay gegangen. Er sagt, er hat Medizin bei Mem gelassen. Sie gibt ihm Medizin?«
Rosminah zuckte mit den Schultern.
Ahmed seufzte und trug ihr auf, sie solle nach einer Möglichkeit suchen, wie sie sich selbst von Tuan Tyndalls Zustand überzeugen könnten.
Mehrere von Tyndalls Freunden sprachen vor, doch Amy wies sie alle höflich mit dem Hinweis ab, ihr Mann brauche absolute Ruhe. Sergeant O'Leary kam zu Besuch, sobald er von Tyndalls Zustand erfahren hatte. Ihm hatte Amy einen kurzen Blick auf den schlafenden Tyndall gestattet und ihn dann wieder hinauskomplimentiert, mit dem Versprechen, ihm sofort Bescheid zu geben, wenn es Tyndall ihrer Meinung nach gut genug ginge, um ihn zu empfangen. Der Besuch des Polizisten hatte ihr einen Schrecken eingejagt, doch er hatte sich freundlich mit ihr unterhalten und ihr alles Gute gewünscht. Er sagte, er würde sich vorerst mit Ahmeds Aussage begnügen, um den Behörden die Havarie der
Shamrock
und den vermutlichen Tod der übrigen
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