Tränen des Mondes
als Olivia und Maya ihn, gleich als sie in Perth aus dem Zug stiegen, mit ihrer Geschichte bestürmten. Die beiden vergaßen alles um sich herum – das Gedränge der Passagiere und der anderen Menschen auf dem Bahnsteig, die rumpelnden Karren der Gepäckträger – und berichteten in allen Einzelheiten von dem, was sie ihr ›kleines Wunder‹ nannten.
Später, als sie wieder zu Hause waren, goß Gilbert ihnen allen ein Glas Champagner ein. »Ich glaube, ein kleines Wunder ist es wert, stilvoll gefeiert zu werden, findet ihr nicht? Auf die Zukunft!« Sie stießen alle miteinander an. »Es ist wirklich wunderbar, daß wir dich in unserer Familie willkommen heißen können, Maria … Maya. Ich glaube, an den neuen Namen muß ich mich erst noch gewöhnen«, lachte er. »Besonders freue ich mich natürlich über unser jüngstes Mitglied. Mein Gott, es ist schon komisch, wenn man urplötzlich Großvater wird. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich Olivia jemals so glücklich gesehen hätte.«
»Du bist nicht der einzige, dem es seltsam vorkommt, unvermutet ein Enkelkind zu bekommen. Aber ist es nicht einfach herrlich?« Sie und Maya schlangen einander die Arme um die Taille und ließen noch einmal die Gläser klingen.
Dann setzten sie sich sofort hin und besprachen, wie sie Tyndall die Sache beibringen sollten. Sie einigten sich darauf, mit dem nächsten Schiff nach Broome zu fahren. Vielleicht war er noch auf See, ein Telegramm jedenfalls schien nicht der richtige Weg, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen.
Als Olivia an diesem Abend Gilbert im Schlafzimmer den Gutenachtkuß gab, flüsterte sie ihm einen Dank ins Ohr, weil er Maya so großzügig aufgenommen und ohne Zögern die Reise nach Broome unterstützt hatte. »Dort wartet noch viel Unerledigtes, Gilbert. Auch ich muß zurück nach Broome.«
»Natürlich, das verstehe ich voll und ganz.«
Doch trotz ihrer Freude über Maya, ihre neue Tochter, lag Olivia in der Nacht wach neben dem schlafenden Gilbert und wurde von der Trauer über Hamishs Verlust übermannt. In ihr Kissen weinte sie die einsamen Tränen einer Mutter, die ihr Kind verloren hat. Doch langsam versiegten ihre Tränen, und sie empfand einen leisen Trost darin, daß sie wenigstens eine Verbindung zu ihm besaß: ihre Enkelin Georgiana.
Die drei standen an der Reling, als der Dampfer in Broome einlief und bei Flut seinen wuchtigen Rumpf an den Kai heranschob. Maya nahm Olivias Hand und drückte sie, mit der anderen hielt sie das Händchen ihrer aufgeregt umherhüpfenden kleinen Tochter. All die vertrauten Gerüche und Geräusche, die warme Luft und die kristallklaren Farben eines strahlenden Broomer Morgens strömten auf Olivia ein und erweckten gespannte Aufregung, aber auch Wehmut und Trauer in ihr.
Auch Maya war bewegt, sie beugte sich vor und murmelte Olivia zu: »Ich erinnere mich. Ich erinnere mich.«
Olivia hatte niemanden von ihrer Ankunft benachrichtigt. Sie ganz allein wollte Maya und Tyndall zusammenbringen. Doch als sie suchend am Ufer entlangblickte, sah sie, daß viele der Perlenlogger noch auf See waren. Andere waren wegen des Kriegs aus dem Verkehr gezogen und lagen in einer Hülle aus Sackleinwand wie Strandgut vernachlässigt in den Mangrovenbuchten. Auf dem Weg zum Hotel Continental sah Olivia in den vertrauten Straßen einige neue Gebäude, aber auch andere, leerstehende, die verbarrikadiert waren. Der Krieg hatte seinen Tribut gefordert. Die Unternehmen, aber auch die Familien hatten sich von der Rezession noch nicht erholt. Olivia wußte, daß die Perlmuttbestände, die die Perlenunternehmer während des Kriegs wegen des Markteinbruchs gelagert hatten, gerade in London und New York für einen Bruchteil ihres Werts verkauft worden waren. Sie hatte an Tyndall geschrieben und ihm vorgeschlagen, sie sollten sich vielleicht in einer anderen Branche umsehen, doch er hatte in einem leidenschaftlichen Brief geantwortet, das Perlengeschäft sei nun einmal sein Leben und nach dem Krieg würde es sicher wieder aufblühen.
Trotz der überall spürbaren schwierigen Wirtschaftslage schlug Olivias Herz höher, als sie den Garten des Hotels durchquerten und die Treppe zur Veranda hochstiegen, wo sie frühstücken wollten. Einige bekannte Gesichter nickten ihr zu und grüßten sie überrascht, doch sie lächelte nur, murmelte ein paar Freundlichkeiten und hielt sich bei niemandem länger auf. Sie hatte einen Boten zu Toby und Mabel geschickt und hoffte, sie wären zu Hause und würden
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