Tränen des Mondes
hatte.
Rosie schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Ich bin sicher, daß wir uns wiedersehen werden. Ach übrigens, da hängen noch ein paar Bilder, die Sie interessieren dürften«, sagte sie und wies in eine Ecke des Salons.
Lily nahm sich noch ein Glas Champagner und wandte sich den Gemälden im hinteren Teil des Raumes zu. Das größte zog sie sofort in seinen Bann. Auf einen in den typischen Erdfarben des Nordwestens gestalteten Hintergrund hatte Rosie ein Motiv gemalt, das Lily sofort wiedererkannte – kleine weiße Kreise in einem größeren Kreis, von parallelen Linien und einem großen X umgeben. Wie elektrisiert fuhr Lily so heftig herum, daß sie ihren Champagner verschüttete. Aufgeregt forschte sie in der Menge nach Rosie, aber die offizielle Eröffnung der Ausstellung war bereits in vollem Gange. Lily schlängelte sich im Rücken der Leute zu dem kleinen Tisch, an dem Kataloge verkauft und Kaufgebote entgegengenommen wurden.
Lily beugte sich zu dem Mädchen und flüsterte: »Kleben Sie bitte einen roten Punkt auf die Nummer 19, ich muß es haben.«
Das Mädchen sah im Katalog nach und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das Bild ist nicht verkäuflich.«
Lily biß sich auf die Lippen. Mit einem gemurmelten Dankeschön zog sie sich zurück und wartete ungeduldig, daß die Ansprachen ein Ende nähmen.
Sie sah keine Möglichkeit, Rosie allein zu sprechen, also drängte sie sich unter Entschuldigungen in den kleinen Kreis, der sich um die Künstlerin gebildet hatte. »Rosie, ich würde wahnsinnig gerne eines Ihrer Bilder kaufen, aber das, das ich haben will, steht nicht zum Verkauf. Ich hoffe, ich kann Sie vielleicht noch umstimmen.«
Die Dringlichkeit in Lilys Stimme ließ die anderen Gespräche verstummen. »Welches ist es denn?« fragte Rosie.
Als Lily auf das fragliche Gemälde wies, sah sie, wie ein Schatten über Rosies Gesicht lief. »Ich nehme das Bild auf jede meiner Ausstellungen mit, aber ich würde mich nie davon trennen. Es ist etwas Besonderes.«
»Was bedeutet es?« bohrte Lily weiter. »Ich muß es wissen, es ist wichtig für mich.«
Rosie sah Lily einige Augenblicke lang schweigend an. »Nun, es ist eines dieser Bilder, deren Bedeutung man für sich selber herausfinden muß.« Die kleine Gruppe um Rosie herum blickte Lily gespannt an. Um ihre Worte zu mildern, fügte Rosie etwas freundlicher hinzu: »Vielleicht werden Sie eines Tages das Bild ›lesen‹ können und seine wahre Bedeutung erkennen. Hier ist meine Karte.«
Den Tränen nahe nestelte Lily ungeschickt an ihrer Handtasche, um die Visitenkarte einzustecken. Als sie sich zum Gehen wandte, rief Rosie ihr noch etwas hinterher. »Soviel kann ich Ihnen aber verraten – das Bild heißt
›Tränen des Mondes‹
.«
Um zehn Uhr des folgenden Tages betrat Lily das klimatisierte Gebäude des Historischen Museums. Eine leger gekleidete Dame mit perfekter Dauerwellenfrisur und einer Brille, die an einer goldenen Kette um den Hals hing, war gerade damit beschäftigt, einen Stapel beschrifteter Aktenordner mit Fotos, Briefen und Zeitungsausschnitten in ein Regal einzuordnen. Als sie Lily entdeckte, ging sie eilig zu dem kleinen Empfangstresen, um den Eintritt zu kassieren.
»Wollen Sie sich nur ein wenig umsehen?« fragte sie und setzte sich die Brille auf.
»Ja und nein«, begann Lily.
Die Frau schaute sie etwas verständnislos an.
»Ja, ich will mich hier umsehen aber gleichzeitig möchte ich auch ein paar Nachforschungen anstellen. Ich bin Lily Barton. Ich war übrigens in Beagle Bay, und Bruder Wilhelm möchte Ihnen das hier anvertrauen. Er meint, bei Ihnen sei es besser aufgehoben.« Sie zog das vergilbte Tagebuch aus der Tasche. »Allerdings würde ich es gerne selber erst lesen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Aber natürlich. Das ist aber nett von ihm. Ich habe schon von dem Buch gehört.« Sie blätterte kurz darin und reichte es dann an Lily zurück. »Ich bin Muriel McGrath. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich weiß nicht so recht. Vielleicht sollte ich mich erst einmal umsehen. Wenn Sie Zeit haben, würde ich Ihnen dann gerne ein paar Fragen stellen.«
»Auch recht, meine Liebe. Ich setze inzwischen Wasser auf. Tee oder Kaffee? Leider nur Instant.«
»Kaffee wäre schön, danke.«
»Hier ist sozusagen das Archiv – wie Sie sehen, voller Denkwürdigkeiten. In den Regalen finden Sie Akten, Bücher, Zeitungen, Briefe und Fotos, alles mögliche. Wir haben viel Material von den alten Familien, es wurde gerade
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