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Tränen des Mondes

Tränen des Mondes

Titel: Tränen des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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und unerwartet. Die Männer ließen die Arbeit sinken und schauten ungläubig auf die Gestalt im Türrahmen, die im grellen Sonnenlicht stand. Einen Moment lang mußte Olivia blinzeln, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit im Schuppen gewöhnt hatten. Ihr bot sich ein malerisches Bild: drei Männer in einer Ecke, neben ihnen ein paar Metallbottiche und ein kleiner Haufen Muschelsäcke. Die Männer hockten auf winzigen Schemeln, zu ihren Füßen Berge von Muscheln, einige davon noch ungeöffnet. Die Männer waren fassungslos, eine weiße Frau hier an ihrem Arbeitsplatz zu sehen.
    »Apa kabar«
, begrüßte Olivia die Gruppe heiter. Sie hatte diese Worte bei Ahmed aufgeschnappt, bevor er auf Fahrt gegangen war.
    »Ah, baik, baik, saja«
, grüßte Ahmed erfreut zurück. »Bitte, kommen Sie. Schauen Sie.«
    Der Gestank der verrottenden Muscheln warf Olivia fast um. Als sie jedoch näher an die Gruppe herantrat, überwog der frische Salzgeruch der noch lebenden Austern. Ahmed bot Olivia seinen Schemel an, und sie setzte sich. Sie betrachtete die Schalen zu ihren Füßen und nahm eine Auster in die Hand.
    »Gute Muschel, Mem.«
    »Wenn du es sagst, Ahmed.« Sie drehte die Auster in der Hand und staunte über ihre Größe. Die meisten Austern waren so groß wie eine Untertasse, manche auch wie ein kleiner Frühstücksteller. Olivia streichelte die rauhe Schale der ungesäuberten Auster, die noch vor kurzem unberührt am Meeresgrund gelegen hatte. Olivia konnte es immer noch nicht fassen, daß ihr neues Leben so eng mit diesen unscheinbaren Gebilden verbunden sein sollte. Was würde man in London nur denken, fragte sie sich mit einem leisen Lächeln. »Wenn man sie so betrachtet, kann man sich kaum vorstellen, daß darin vielleicht eine liebliche Perle ruht.«
    Ahmed nahm die unförmige Schale und schob ein flaches, breites Messer in den Schließmuskel, der die Schalenhälften fest zusammenhielt. Er fuhr mit dem Finger in das feste Fleisch, genau zwischen das Gewebe, das man Mantel nennt, und zog eine kleine, merkwürdig geformte Perle heraus. Das sei eine minderwertige Barockperle, erklärte er, aber Olivia war dennoch begeistert. Das ungewöhnliche Ding in Ahmeds Hand faszinierte sie. Aufmerksam folgte sie seinen Erklärungen über die Muschel und sprach alle Begriffe, die er ihr auf englisch wie auch auf malaiisch nannte, langsam und bedächtig nach. Sie wollte sie sich fest einprägen. Die Kupanger verloren allmählich ihre Scheu gegenüber der weißen Frau und kicherten über ihre unbeholfene Aussprache der malaiischen Worte. Ahmed zeigte ihr die kräftigen Schließmuskeln der Auster und den Saum von Flimmerhärchen, die das Wasser filtern und den Organismus mit Sauerstoff und Plankton versorgen.
    Unter dem Gelächter der Kupanger versuchte Olivia, eine Auster zu öffnen. Doch die Muschel ließ sich nicht bezwingen und blieb fest geschlossen. Olivia zog sich bei diesem Versuch einige Schnitte in der Hand zu, aber sie tat die Verletzung mit einem Lachen ab.
    »Halb so schlimm«, sagte Olivia und wischte sich das Blut mit einem Taschentuch ab. »Das gehört alles zum Lernprozeß. Ich werde diesen Teil des Geschäfts aber doch lieber euch überlassen.«
    Von nun an besuchte Olivia den Muschelschuppen jeden Tag. Manchmal brachte sie einen Topf Essen mit, das ihr chinesischer Koch für die Männer bereitet hatte. Derlei Großzügigkeit kannte man hier nicht, und die Kunde davon verbreitete sich rasch. Die weiße Gesellschaft rümpfte die Nase und murmelte etwas von ›Sitten verderben‹. Die Asiaten akzeptierten die Geste zwar erstaunt, aber mit Respekt. Diese neue weiße Lady war schon etwas Besonderes.
    Zu der neuen Tagesroutine gehörte auch, daß Olivia Conrad die Tagesabrechnung mitbrachte und die kleine Tagesausbeute an Perlen übergab. Meist handelte es sich um mittelmäßige Barockperlen. Die Ausbeutung der Ware an Land war etwa eine Woche nach dem Einlaufen der
Bulan
abgeschlossen. Als Olivia an jenem Tag den Schuppen verließ, wünschte sie der Mannschaft für ihre nächste Fahrt wieder so viel Glück. Ahmed brachte sie zur Tür. Dabei bemerkte er eine noch ungeöffnete Auster am Boden und hob sie zerstreut auf. Er dankte Olivia wie immer für das Essen.
    »Das war doch nicht der Rede wert, Ahmed. So habe ich wenigstens eine Ausrede, ein bißchen länger bei euch zu bleiben um dabeizusein, wenn ihr vielleicht eine wirklich gute Perle findet.«
    »Tut mir leid, Mem. Vielleicht nächstes Mal«, tröstete er sie. Er

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