Traenenengel
gab. Sälzer öffnete die Tür, betrat den Raum, schaltete das
Licht an und sah sich um. Die Dachschrägen reichten bis zur Mitte der Wand. Auch sie waren mit Holz vertäfelt. In der Ecke
beim Fenster lag eine Matratze. Das Bettzeug darauf war zerwühlt. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch. Im Gegensatz zum
Rest der Wohnung war er sehr aufgeräumt. Überhaupt hob sich das ganze Zimmer durch seine Ordnung von den anderen Räumen ab.
Links und rechts neben dem Fenster hing jeweils ein Poster. Auf dem einen waren Fische mit lateinischen und deutschen Namen
darunter abgebildet,das andere Poster erinnerte Sälzer an das Medizinstudium, das er nach der Schule begonnen und nach drei Wochen wieder abgebrochen
hatte. Darauf waren zwei Menschen abgebildet, jeweils von vorne und von hinten. Die oberen beiden Bilder zeigten den Blutkreislauf
und das Nervensystem, die unteren die Muskulatur. Jemand hatte kleine Pinnnadeln auf den Körpern verteilt, die Sälzer spontan
an Voodoo und Akupunktur denken ließen.
An der anderen Wand mit der Dachschräge, gegenüber der Matratze, reihten sich niedrige Regale. Darauf standen eine alte Musikanlage,
ein kleiner Fernseher, ein paar CDs, Bücher und eine Lampe, deren Schirm abhanden gekommen war, sodass man die nackte Glühbirne
sah.
An der hohen Wand am anderen Ende des Raums stand ein Kleiderschrank. Er war aus massivem, dunklem Holz und so groß, dass
Sälzer sich fragte, wie er durch die Tür gepasst hatte. Als er auf den Schrank zuging, knarrte der Holzboden unter ihm. Sälzer
öffnete den linken Flügel der Schranktür. In mehreren Fächern stapelten sich säuberlich Klamotten. Ganz unten stand eine Kiste
mit zusammengerollten Strümpfen. Sälzer schloss die linke Schranktür und öffnete den rechten Flügel. Mehrere Jacken und ein
paar Hemden hingen auf Kleiderbügeln an einer Stange. In dem einzelnen, untersten Fach lagen Mützen und Handschuhe.
Sälzer wollte die Tür gerade schließen, als er ausden Augenwinkeln etwas wahrnahm, was sofort seine Aufmerksamkeit erregte. Er riss den Türflügel weit auf und starrte auf dessen
Innenseite.
Das Holz des Türflügels war kaum noch zu sehen. Er war über und über von Fotos bedeckt. Die Fotos zeigten immer ein und dieselbe
Person: Flora Duve. Flora vor ihrem Haus, wie sie sich gerade die Haare zum Zopf bindet. Flora neben Trixi auf einer Mauer.
Flora auf dem Fahrrad mit wehendem Schal. Flora inmitten von anderen Jugendlichen, vermutlich auf einem Schulfest oder Ausflug.
Flora mit Mütze im Winter, wie sie gerade einen Schneeball wirft und dabei die Zunge herausstreckt. Flora lachend, nachdenklich,
ernst, überrascht. Auf manchen Fotos war Flora höchstens zwölf, auf anderen glich sie dem Mädchen, das Sälzer seit ein paar
Tagen kannte.
Quer über alle Fotos verlief eine breite, dunkelrote Spur. Tropfen, Flecken, Schlieren, Spritzer – Blut. Es sah aus, als hätte jemand den unzähligen Floras mit voller Wucht eine Blutbombe entgegengeschleudert.
Eine Sekunde schloss Sälzer die Augen. Er hielt sich mit der Hand am Türflügel fest und merkte nicht, wie er leicht schwankte.
Er hätte es wissen müssen: Sein Gefühl war ein beschissener Ratgeber.
Hastig riss er eins der blutbeschmierten Fotos von der Innenseite der Schranktür, ließ sie offen stehen, eilte aus Patricks
Zimmer und die Treppe hinunter. Im Flur stieß er fast mit Felber und Masarykzusammen, der ein blutverschmiertes Filiermesser in einer Plastiktüte vor sich hielt.
Sälzer hielt Wilbert Felber das Foto vor die Nase. »Wo ist Patrick?«, schrie er, obwohl Felber nur ein paar Zentimeter entfernt
stand.
Felber starrte auf das Foto. Die Narbe auf seiner Wange zuckte.
Masaryk begriff sofort, was Sälzer selbst in dem Moment nur unbewusst befürchtete. »Herr Felber, sagen Sie uns sofort, wo
Ihr Sohn ist.«
Felber ließ das Foto nicht aus den Augen. »Ich weiß es nicht«, sagte er kaum hörbar. »Er wollte in die Stadt. Eine Freundin
besuchen.«
Sälzer und Masaryk tauschten einen kurzen Blick, dann hasteten sie aus dem Haus und ließen Wilbert Felber alleine im Flur
zurück.
***
»Aber bleib bitte nicht zu lange, ja? Und ruf an, wenn es doch später wird. Ich kann dich auch abholen.«
»Mama, ich geh nur ein paar Straßen weiter zu Flora. Das habe ich tausend Mal gemacht.« Trixi ließ den Wohnungsschlüssel in
die Umhängetasche fallen und trat in den Hausflur.
»Ich weiß. Aber das war vor letztem
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