Traenenengel
ob der Hund zu dem Zeitpunkt, wo ihm diese Wunden zugefügt wurden,
schon tot war oder nicht.«
Sälzer hatte sich vom Aktenschrank abgewandt. Er schüttelte sich kurz. »Hast du 'nen Hund?«, fragte er.
»Nein. Sie?«
»Hatte mal Guppies.«
Masaryk sah seinen Chef einen Moment unentschlossen an, dann blickte er wieder auf das Fax. »Der Spaziergänger hat darauf
bestanden, dass das Veterinäramt die Sache an uns weiterleitet.«
»Hat er Anzeige erstattet?«
»Ja. Hier steht gegen unbekannt wegen Tierquälerei und Sachbeschädigung.« Masaryk runzelte die Stirn.
»Tiere sind laut Gesetz Sachen. Da bellt im BGB kein Hund nach.«
Masaryk sah wieder auf das Blatt. »Der Spaziergänger, der die Anzeige erstattet hat, heißt Olaf Kaltenborn, wohnt in Kraldorf.«
»Kraldorf. Schon wieder.« Sälzer wiegte den Kopf. Schon wenn er an den letzten Besuch in diesem Dorf nur dachte, bekam er
schlechte Laune. Wozu hatte er einen Praktikanten? »Kannst du rausfahren und mit diesem Kaltenborn reden?«
Masaryk nickte, stand auf, trank im Stehen seinen Kaffee aus, steckte das Fax ein und ging zur Tür. »Bin schon weg.«
Sälzer wandte sich wieder dem Aktenschrank zu. Er fuhr mit dem Finger über die Reiter und zog schließlich eine Mappe heraus.
Sie gehörte zu einem der ersten Fälle, die Sälzer in Telpen bearbeitet hatte. »Sven Thiele« stand auf dem Deckblatt. Sälzer
klopfte mehrmals hintereinander kurz mit dem Zeigefinger auf die Akte und nickte. Dann klemmte er sich die Akte unter den
Arm und schob die Schranktür zu. Er beschloss, sich mit der Akte in die Cafeteria zu setzen und eine Salzstange zu rauchen,
bevor er sich an weitere Befragungen in Flora Duves Umfeld machte.
13. Kapitel
»Sie ist in ihrem Zimmer«, sagte Floras Mutter, kaum dass sie Trixi die Wohnungstür geöffnet hatte. »Vielleicht kannst du
sie trösten. Meine verstaubten Sprüche will sie nicht hören.« Sie verschwand mit brennender Zigarette in der Küche.
Im Vorbeigehen sah Trixi, dass Götz Gerlinger am Küchentisch saß und gerade eine Bierflasche öffnete. Die Ärmel seines hellblauen
Hemds waren hochgekrempelt, die obersten Knöpfe geöffnet. Trixi hielt kurz inne und betrachtete ihn zum ersten Mal genauer.
Er hatte die gleichen glatten, hellbraunen Haare wie Hagen, nur dass seine schon mit grauen Strähnen durchsetzt waren und
sein Haaransatz weit zurückreichte. Er sah genau so aus, wie man sich einen Immobilienvermittler vorstellte.
Er blickte auf und sah Trixi fragend an.
»Hallo«, sagte sie und ging schnell weiter. Erst als sie vor Floras Tür stand und einen Blick auf die Tür zu dem kleinen Abstellraum
daneben warf, in dem Hagen zwei Tage die Woche schlief, wurde ihr bewusst, dass sie gehofft hatte, ihm bei den Duves zu begegnen.
Nach ihrem letzten Besuch bei Flora hatte sie einen Zettel in ihrer Jackentasche gefun den:
Wann hat denn Frau Jerger mal Zeit und Laune, sich mit Herrn Gerlinger zu treffen?
Trixi wusste nicht, was sie von Hagen halten sollte. Genau das reizte sie. Im Gegensatz zu den anderen Jungen, die sich bisher
für sie interessiert hatten, war er ein Rätsel. Sie liebte Rätsel.
Trixi klopfte an Floras Tür. »Flora? Ich bin's.« Sie wartete ein paar Sekunden. Immerhin schrie Flora nicht
Hau ab, lass mich in Ruhe!
oder so etwas. Das hatte sie das letzte Mal getan, als sie Liebeskummer gehabt hatte. Langsam drückte Trixi die Klinke hinunter
und trat ins Zimmer.
Flora saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Fensterbrett. Mit den schwarzen Leggings und der eng anliegenden, dunklen Strickjacke
wirkte sie noch schmaler. Wie eine junge Katze. Sie hatte die Arme um die Hüfte geschlungen und lehnte seitlich mit der Stirn
an der Fensterscheibe. Ihr Gesicht war blass, auch die Lippen.
Trixi ging langsam zum Fenster. Sie lehnte sich an die Wand neben dem Fenster und strich Flora über den Arm. Einen Moment
sagte keiner etwas.
»Heute war unser Jubiläum.« Floras Stimme zitterte wie ein Spinnennetz. Sie sah weiter aus dem Fenster. »Fünf Monate. Wir
waren auf dem Friedhof. Bei unserem Engel. Weißt du, dieses uralte Grabmal mit der kleinen Bank dahinter. Hab ich dir das
mal erzählt?«
Trixi nickte. Flora hatte ihr diesen Engel nie gezeigt.Und Trixi wollte ihn auch nie sehen. Es war Floras und Andros Platz. Dort hatten sie sich vor fünf Monaten an einem kalten
Februarnachmittag zum ersten Mal geküsst.
»Als er gestern gefragt hat, ob wir uns am Engel treffen
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